1917 – Die Mitte Europas und die Soziale Dreigliederung

Text: Reinhard Apel, Mai 2020

Historischer Rückblick

  • Das alte Geistesleben

Aus urferner Vergangenheit stammt das erste Glied des sozialen Organismus, welches wir in der sozialen Dreigliederung das Geistesleben nennen. Einstmals, zur Zeit der Pyramiden, war es das einzige und alles bestimmende Element im sozialen Leben, gut sichtbar an der Einrichtung des Pharaonentums. Die geistige Elite herrschte als Priesterkaste in absoluter Form. Das schloss alle rechtlichen und wirtschaftlichen Fragen mit ein. Das bekam noch Mose zu spüren, der seine Juden davon ausnehmen wollte und einen Übergang zur nächsten Epoche formte. Denn durch Mose, selbst Ziehsohn des Pharao, ist nicht mehr die soziale Ordnung durch Autorität einfach gegeben. Jetzt gibt es ein Gesetz, an das sich alle gleichermaßen zu halten haben, auch er selbst. Der ägyptische Pharao hingegen stand über dem Gesetz.

  • Das kämpferische Rechtsleben

Die folgende Ära war die Zeit der Helden, Streiter und Könige, in der die Menschen sich die soziale Ordnung, die gelten sollte, erfochten hatten. Der strahlende Achill, der listige Odysseus treten auf den Plan. Ein Bewusstsein der Abgrenzung von Menschen, Menschengruppen und Völkern entsteht, die von einem als Leiter akzeptierten Menschenfürsten geführt werden. Er ist nicht mehr in erster Linie von Göttern legitimiert. Die Götterwelt wirkt weit weniger direkt ein, als vormals. Der Priester tritt in den Hintergrund, verwaltet aber Weisheit und Wissen, also weiterhin das Geistesleben. Allerdings treten auch hier Emanzipationsbestrebungen ein und deshalb muss Sokrates den Schierlingsbecher trinken, der Philosoph, der nun das freie geistige Leben begründet. Die ganze Ära hindurch grenzt sich das Rechtsleben vom alten, autoritären Geistesleben ab, oft spannungsreich (Canossagang). Die alte Götterwelt verdämmert (Ragnarök) und ein neuer Gott wird im Innenleben des Menschen geboren. Der Mensch gelangt in dieser Phase, die Griechenland, Rom und das Mittelalter umfasst, allmählich auf Augenhöhe zum Mitmenschen. Die Menschheit erringt sich das zweite Glied des sozialen Lebens, das Rechtsleben.

Heute

  • Modernes Wirtschaftsleben

Beispiel Covid-19

Ab dem 15. Jahrhundert wird die wirtschaftliche Handlung mehr und mehr bestimmend im sozialen Leben. Sie setzt an, die beiden anderen Elemente – das Geistesleben und das Rechtsleben – zu beherrschen. Vorher gab es zwar Handel, Handwerk und Landwirtschaft, doch niemals hätte ein Verband von Handwerkern oder Bauern mitentscheiden können, ab wann die Landesgrenzen wegen einer Seuche geschlossen werden, wie gerade eben in Sachen Corona. Erst als die ökonomische Elite einverstanden war, durfte 2020 das soziale Leben aus hygienischen Gründen zurückgefahren werden. Im gleichen Geist wird in Bezug auf Italien wenig über die chinesischen Billiglohnarbeiter gesprochen, die den Virus vermutlich importierten, denn es soll nicht das Konzept extrem geringer Löhne hinterfragt werden. Ebenso wenig wird es unter dem Stichwort „Ischgl“ ernste Folgen geben. Von Tirol aus wurde zwar Covid-19 zu einer europäischen Sache gemacht, alle nationalen Grenzen rasch überwindend, doch werden wirtschaftliche Erwägungen hier wohl stärker wiegen als rechtsstaatliche Konsequenzen. Sebastian Kurz weiß, dass der Fremdenverkehr für die österreichische Handelsbilanz wesentlich ist. Deshalb können in Bezug auf Skigebiete nicht zu viele unangenehme Fragen gestellt werden.

Gesteigertes Interesse an der Welt und die Seehandelswege als Charakteristika unserer Zeit

Die Voraussetzungen für die gegenwärtige ökonomische Epoche ist das Aufkommen der Naturwissenschaft, sodann ihre Umsetzung in Technik und daraus resultierend die moderne Industrie. Gleichlaufend damit entwickelte sich ein Interesse für die Ausdehnung der Welt, das in den Entdeckungsfahrten die großen Handelsrouten etablierte. Es wurde in dieser Artikelreihe geschildert, welche Völker dabei maßgebend waren:

  • Die Portugiesen als eigentliche Entdecker der Welt, die Spanier und Franzosen als königliche Eroberer, die Holländer als begabte Kaufleute, die Briten als Sieger im kolonialen Wettlauf.

Ab ungefähr 1700 begann alles was gut und teuer war, in englische Hände überzugehen und wurde allmählich zum British Empire. Wer englisch sprach, zeigte eine besondere Begabung dafür, den Primat des wirtschaftlichen Lebens praktisch umzusetzen. England hatte bis etwa 1900 alle Konkurrenten im Welthandel marginalisiert. Die See war „englisch“ geworden. Bis heute sind alle für den Welthandel bedeutenden strategischen Stellen zur See entweder in britische Hand (zB. Gibraltar) durch die USA kontrolliert (zB. Persischer Golf) oder durch Verbündete abgedeckt (zB. Israel – Suezkanal).

Vorbedingungen des Ersten Weltkrieges

Die Deutschen sind erst ab 1870/71 durch das preußische Kaiserreich im Seehandel aktiv, erwerben spät noch einige übriggebliebene Gebiete als Kolonien und werden bereits 1914 mit dem ersten Weltkrieg von englischer Seite scharf zurückgepfiffen. Der erfolgreich einsetzende deutsche Welthandel war wohl der tieferliegende Kriegsgrund für die Briten. Das soll nüchtern betrachtet und nicht zu sehr moralisch bewertet werden. England hat nur weitergeführt, wodurch es groß wurde, nämlich die Beschneidung aller Rivalen zur See. Das ist auch notwendig, wenn man unser ökonomisches Zeitalter so versteht, wie es vom Westen verstanden wird, also im Wesentlichen im Sinne des Konkurrenzdenkens von Adam Smith. Allerdings war für den britischen Erfolg im ersten Weltkrieg eine Allianz mit Frankreich und eine mit Russland nötig. Russland hätte man vom deutschsprachigen Raum her durchaus befrieden und aus der Gleichung nehmen können, wenn man das Problem des aufkommenden Selbstbewusstseins der Slawen konstruktiv gelöst hätte. Das wiederum wäre vor allem die Aufgabe Österreichs gewesen, welches ja mehr Slawen als Deutschösterreicher in seinen Grenzen hatte. Die russische Seite wäre dann nicht im Laufe des 19. Jahrhunderts in die Lage gekommen, sich zum Schutzherrn aller Slaven ausrufen zu können (Panslavismus), und dadurch eine Spannung zu Österreich aufzubauen. Alles entwickelt sich gegen 1900 hin ungünstig für den deutschsprachigen Kulturraum. Man erkennt nicht, dass der wirtschaftlich motivierte deutsche Kolonialismus England auf den Plan rufen musste. Man mindert nicht die politische Spannung mit Frankreich durch eine originelle Behandlung der Elsass Frage, etwa durch Schaffung einer zweiten Schweiz. Und damals wie heute wird nicht bemerkt, wie die Slawische Frage wohlwollend aufzugreifen, jenes „Deutsche Wesen“* an dem die Welt genesen könnte, unmittelbar sichtbar machen würde. Die Slawische Frage ist ein wesentlicher Teil der Deutschen Aufgabe. Diese Felder alle nicht bearbeitend, findet sich Mitteleuropa dann gegen 1914 hin eingekreist und in seinem politisch unabhängigen Fortbestand bedroht, allerdings typischer Weise nie recht wissend, was es geschlagen hat.

Die Dreigliederung des Sozialen Organismus, dazumal inauguriert und vertreten von Rudolf Steiner, sollte dazu dienen, die Konfliktursachen zu bearbeiten. Sie sollte einen eigenständigen und inhaltvollen deutschsprachigen Raum etablieren, der, anders als englischsprachige Staaten, nicht (genötigt durch die Marktwirtschaft laut vom Frieden sprechend, ständig Krieg führt. Das Deutsche Wesen, an dem die Welt genesen könnte, ist eigentlich durch ein wirklich freies Geistesleben erst zu entwickeln. Weder alte imperiale Gedanken aus der vorhergehenden Kulturepoche herüberkommend, wie sie damals die Franzosen vertraten, noch die modernen Leitbilder des Westens, die auf wirtschaftliche Dominanz abzielen, entsprechen diesem nach Goethe und Fichte gedachten „Deutschen Wesen“.

Die Geste nach Westen

Sie soll die selbstständig-assoziative Natur des modernen Wirtschaftslebens ausbilden, um England-Amerika (wie Steiner es zuweilen ausdrückt) in einen konstruktiven ökonomischen Austausch zu ziehen. Dabei kann man auf das Urbild der Deutschen Hanse hinsehen, in welchem der freie Händler sich positiv und friedlich betätigt in einer Netzwerkartigen Struktur, die mit der wirtschaftlichen Dynamik mitgeht. Das bedeutet eben nicht, dass in Mitteleuropa ein liberaler Kapitalismus auftreten muss, oder dass das Finanzwesen so sein sollte wie heute. Denn dann flösse der Strom des Geldes doch wieder nur Richtung Atlantik, weil aufgrund der Verteilung von Begabungen in der Welt, die Organisation von Investitionen überwiegend aus dem englischsprachigen Raum erfolgen müsste. Finanzielle Beteiligung und Investition sollen einerseits zwischen Mitte und Westen wechselweise möglich sein, aber durch eine eigene rechtliche Struktur aus ihrem Raubrittercharkter befreit werden. Andererseits soll die Bindung der Wirtschaft an den Staat verringert werden, um keine Kriegsursachen zu erzeugen, weil staatlich gebundene wirtschaftliche Akteure aneinandergeraten. Der Staat – so unglaublich es heute klingt – wird darf in der Sozialen Dreigliederung keine wirtschaftlichen Interessen haben.

Ein Paradigma muss dann sein: Man vermeide es unbedingt, mit der westlichen Hemisphäre in einen Kampf um die Welthegemonie einzutreten! Das auch deshalb, weil hier ein Obsiegen nicht möglich ist, denn dort liegt aus historischer Notwendigkeit heraus das Zentrum der Umsetzung von Naturwissenschaft in Macht. Man soll nur selbst kein Satellit sein, was heute (seit 1945) mehr oder weniger eindeutig der Fall ist. Kämpft man um die Vorherrschaft, dann wird unweigerlich der natürliche „englische“ Vorsprung in Industrie und Technik zur absoluten Dominanz sich entwickeln. Ganz so, wie es gekommen ist, nach der Konfrontation mehr defensiven Charakters im Ersten und der offensiven Kampfansage im Zweiten Weltkrieg. Denn die Konzentration aller Kräfte zum Bau der Atombombe hat eigentlich schon 1945 die USA zum Hegemon gemacht. Seit 1989 die Sowjetunion zerfallen ist, gibt es überhaupt nur mehr eine englischsprachige Weltordnung. Die Möglichkeit neben einer „englischen“ Einflusssphäre als weniger mächtiges Gebiet anderen Charakters zu existieren, liegt in erster Linie in der Kooperation mit der slawischen Welt.

Die Geste nach Osten

Während der Westen in der Beherrschung der äußeren Welt noch lange tonangebend sein wird, ist der slawische Raum diesbezüglich zum Nachhinken verdammt. Obwohl ein Treffer mit dem Sputnik gelang, ist das Apollo Programm zuletzt klar der Sieger. Dort müsste eigentlich ein Entgegenkommen da sein, wenn jemand helfen will, dass slawische Kultur aufgebaut wird. Dass der Westen solches nie wirklich macht, zeigte sich nach dem Fall des Eisernen Vorhanges, als westorientierte Oligarchen versuchten, das russische Gas und Öl dem Westen zuzuspielen (z.B. Abramovitch). Zuletzt blieb Vladimir Putin nichts anderes übrig, als mit Gewalt den Ausverkauf der Rechte auf russische Bodenschätze Richtung Westen zu verhindern. Damit hängt sein autoritärer Stil zusammen. Ein assoziativ-kooperatives Wirtschaftsleben kann, verbunden mit der Bejahung eigenständiger slawischer Kultur, in allen Nuancen anders vorgehen. Für Rudolf Steiner wäre die positive Vorleistung dazu gewesen, den Vielvölkerstaat Österreich vor seiner völligen Niederlage (also spätestens 1917) so zu gestalten, dass durch die Einrichtung eines freien Geisteslebens die Slawischen Nationen Österreichs (natürlich auch Ungarn, Italiener etc.) ihre nationalen Bestrebungen ausleben können, ohne sich nach Nationalstaaten sehnen zu müssen. Dann hätten die Ostslawen samt ihren vielen Minderheiten gesehen, dass ein Zusammenwirken möglich ist und Österreich hätte als Modell dafür weiterbestehen können.

Steiner zweite Initiative im Ersten Weltkrieg und der Friede von Brest Litovsk

Als durch die fatale Einschleusung Lenins nach Russland dortselbst 1917 die Oktoberrevolution ausbricht, sieht sich Russland veranlasst, mit Deutschland und Österreich Frieden zu schließen. In Brest Litovsk wird darüber verhandelt. Der deutsche Chefunterhändler, Bethmann – Hollweg, der diesbezüglich mit Rudolf Steiner gesprochen hatte, soll Steiners Vorschläge „in der Tasche“ gehabt haben, um eben einen solchen freundlichen Frieden vorzuschlagen. Allein, herausgezogen hat er sie tragischer Weise nicht! In der Illusion befangen, den Krieg im Westen noch gewinnen zu können, zwangen die Deutschen Russland zu riesigen Gebietsabtretungen, die Österreicher ließen sich mitziehen, wenn auch mit flauem Gefühl. Ein der „Geste nach Osten“ völlig zuwiderlaufendes Aneignen von Territorien wurde erzwungen, wie es nur ein erbitterter Feind tut.

Aber siehe: bereits 1918 nach der Kapitulation der Mittelmächte (D, Ö) war all das wieder dahin, wurde gar umgedreht, indem Deutschland selbst große eigene Ostgebiete verlor. Wäre es nicht ein wichtiges Signal gewesen, dass man im Falle eigenen Sieges maßvoll ist? Dazu eben hatte Rudolf Steiner geraten, etwas in der Art hatte Bethmann-Hollweg “ in der Tasche“. In den Pariser Vororteverträgen konnten die Sieger des Weltkrieges (GB,USA,FR) dann allzu leicht die Mittelmächte als unbeherrschte Despoten darstellen, die nicht nur das kleine Belgien überfallen hatten, sondern überhaupt alles niederwalzen wollten. Aus heutiger Sicht kann man sagen, dass mit den Verträgen von Versailles und Saint Germain ein unabhängiges Mitteleuropa verspielt war. Denn Österreich war nur mehr ein Schatten seiner selbst und Deutschland in friedlicher Form durch die viel zu hohen Reparationen nicht stabil (wie auch der britische Ökonom John Maynard Keynes anmerkte). Erst als ein dunkler Diktator namens Hitler die Verpflichtungen aus dem Friedensschluss des Ersten Weltkrieges einfach einseitig aufkündigte und assistiert durch Chamberlains Appeasement – Politik die wirtschaftlichen Strukturen bis zur Kriegsfähigkeit hochfuhr – das schwache Restösterreich dabei verschluckend – war eine kurze Phase der Prosperität möglich … um dann im Zweiten Weltkrieg schrecklich unterzugehen, dabei vor allem nach Osten hin Untat auf Untat häufend. Danach zeigte der Westen seine Macht, um zunächst Europa zwischen sich und der Sowjetunion aufzuteilen, und Westdeutschland zum sogenannten 51. Bundestaat der USA zu machen. Nach dem Kollaps des zu statischen planwirtschaflichen Sowjetsystems im Oste, wurde auch Ostdeutschland in die westliche Sphäre einbezogen. Nur kurz hat die Idee der Sozialen Dreigliederung wie eine Sternschnuppe aufgeleuchtet. Ein unabhängiges Deutschland mit der Option, seine Aufgabe wiederzufinden, war nicht das Ergebnis des Mauerfalls. Wie anders könnte all dies aussehen, hätten Steiners Ideen damals nicht immer knapp an der Verwirklichung verpuffen müssen.

Die vor allem in Österreich recht aussichtsreichen Memoranden Steiners vom Sommer 1917 sind nicht gehört worden, seine Vorschläge für Brest Litovsk blieben unerwähnt. Ahnend, was jetzt kommen würde, macht Rudolf Steiner noch zweimal den Versuch, die Lawine des Schicksals von Mitteleuropa fernzuhalten. Eine davon war die Veröffentlichung der Memoiren des General Moltke, Chef des Generalstabs zu Kriegsbeginn. Darüber mehr im nächsten Heft.

* Dem hier gemeinten „Deutschen Wesen“ standen die Nationalsozialisten so fern wie nur möglich.

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