Text: Reinhard Apel, Oktober 2019
Das alte Österreich war eine Vielvölkermonarchie. Bestehend hauptsächlich aus Deutschösterreichern, Ungarn und seinen slawischen Nationen. Im sonnigen Triest gab es auch Italiener und überhaupt war Österreich das Gegenteil eines ethnisch homogenen Staates. Darin lag sein Glanz, aber zugleich seine Problematik. Die Habsburger sahen die Länder der Monarchie durchaus noch als ihren rechtmäßigen persönlichen Besitz an, die Einwohner als ihre Untertanen. Spätestens mit der französischen Revolution beginnend, hatte jedoch in Europa ein Bewusstseinswandel eingesetzt. Das Individuum wurde entdeckt, überkommene Herrschaftsvorstellungen in Frage gestellt, und der Bürger begann durch seine wirtschaftlichen Erfolge dem Adeligen den Rang abzulaufen.
Alle drei Elemente sind also angesprochen:
Das Geistesleben als Feld der Individualisierung und alles Liberalen
Das Rechtsleben bei der Suche nach neuen Rechtsformen und Staatsideen
Das Wirtschaftsleben in rasanter Entwicklung durch die industrielle Revolution
War der erste Weltkrieg nach Westen hin ein Konflikt mit weltweiten wirtschaftlichen Hintergründen (Deutschland – England), und bezüglich Frankreichs für die Deutschen ein politisch – staatliches Kräftemessen in Europa (Rechtsleben), so lag es in Bezug auf Österreichs Slawen anders. Sie entdeckten gerade ihre Identität in Sprache und Kultur (also im Bereich des Geisteslebens), wollten Slowakisch, Tschechisch, Kroatisch auch in Schule und Amt sprechen dürfen. Österreich gewährte es nur halbherzig. Man wollte die Abstufung der Ethnien in strenger Reihenfolge weiterführen:
1. die Deutschösterreicher,
2. die Ungarn
3. die Slawischen Völker
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker
Man muss zugeben, dass diese Vorgänge im englischsprachigen Raum durchaus gesehen wurden. Das zeigen die berühmten 14 Punkte des US – Präsidenten Wilson vom Januar 1918, die dann als Friedensprogramm überall kursierten. Ein großes Österreich würde im Falle der Niederlage im Weltkrieg auf Basis der 14 Punkte verschwinden. Das darin enthaltene Selbstbestimmungsrecht der Völker würde Ungarn, die Tschechoslowakei etc. an seine Stelle setzen. Übrigbleiben würde das heutige Österreich, dass nur im Skisport eine Großmacht ist.
Ein Selbstbestimmungsrecht der Völker könnte 2019 bewirken … Oh my god! … die Abspaltung von Mississippi und der Carolinas von den USA, der Afro-Americans wegen. Die Latinos könnten Anspruch auf Teile Kaliforniens erheben, die Mormonen als Volk Gottes auf Utah. 1918 dachte die Entente auch nicht an Selbstbestimmung im British Empire, wohl aber in Österreich. Sollte man also 1917 der Meinung sein, das Zusammenwirken der Nationen Österreichs sei von Bedeutung für das geschichtliche Werden, auch wenn sich die Monarchie als Staatsform überlebt hätte, dann brauchte man …
Die Vision für ein großes Österreich 2.0
Die österreichischen Grafen Arthur und Ludwig Polzer-Hoditz sind von Kindertagen an mit Karl von Habsburg bekannt. Als der junge Karl im November 1916 Kaiser von Österreich wird, fungiert Arthur eine Zeit lang als sein Kabinettschef in Wien. Ludwig wiederum ist gut mit Rudolf Steiner bekannt und ein bevorzugter Gesprächspartner für geschichtliche und soziale Fragen. Damit ergibt sich eine klare Kommunikationslinie für Ideen von Steiner zu Karl von Habsburg, die bald auch schlagend wird. Graf Ludwig Polzer-Hoditz ist mit Rudolf Steiner im Gespräch über Auswege aus der Notlage Österreichs. Die Chancen der alten 15 Donaumonarchie auf Fortbestand sind gering, Reformen überfällig. Man spricht in der Öffentlichkeit von Österreich als einem Völkerkerker, kleine Nationalstaaten werden gefordert. Andererseits: Sollte Deutschland den Krieg gewinnen, fürchtet Kaiser Karl ein Aufgehen im Deutschen Reich. Karl ist sogar zu einem Separatfrieden mit den Kriegsgegnern bereit, (an Deutschland vorbei!) um das Staatsgebiet zu erhalten.
Rudolf Steiner will den Völkern Österreichs sofort das Freie Geistesleben angeboten wissen, um damit besonders den Slawen Österreichs zu entsprechen. Wir schreiben mittlerweile den Juli 1917, Russland ist noch nicht kommunistisch und die USA sind erst kurz im Krieg. Wenn jetzt Frieden gemacht wird, gibt es keine Oktoberrevolution und wahrscheinlich keinen Aufstieg der USA zur Weltmacht.
Steiner verfertigt in jenem Juli 1917 auf Ansuchen Otto Graf Lerchenfelds ein Memorandum für Deutschland mit der Sozialen Dreigliederung als Basis eines Friedensschlusses. Auch Ludwig Polzer–Hoditz erhält es. Er will es seinem Bruder Arthur übergeben und jener (nach eingehendem Studium und bei Bejahung) soll es dem Österreichischen Kaiser vorlegen. Auch möge Arthur den ihm durchaus erreichbaren Posten des Außenministers anstreben, und das Programm mit dem Kaiser gemeinsam sogleich als Friedensvorschlag in die Welt tragen. Jetzt hängt alles an einem Faden … und ein großes Österreich in vollkommen reformierter Gestalt kann – davon ist Steiner überzeugt – zum Vorteil Europas weiterbestehen.
Der Graf und der Kairos
Verständlicher aber auch tragischer Weise kann sich Graf Arthur Polzer-Hoditz nicht dazu durchringen, die Vorschläge zum rechten Zeitpunkt, im Sommer 1917 an den Kaiser heranzutragen. Damit ist alles verspielt, die Sternstunde verstreicht. Die Ideen haben Arthurs Zustimmung, das wohl, allein er sieht die starke Opposition gegen seine Person im Kabinett, versucht nicht Außenminister zu werden und glaubt erst nach seinem Rücktritt zum Kaiser gehen zu sollen. Der findet dann die Sache durchaus interessant … doch Deutschland hat ihm die Hände zu eigenem Handeln bereits gebunden, der Krieg geht weiter. Arthur von Polzer-Hoditz ist ein nachdenklicher, seriöser Mann, eben nicht der Typus Boris Johnson, der die Macht ohne Konzept an sich reißt. Arthur hat genügend Ideen in petto in Form des Memorandums und einen Rudolf Steiner, zu jeglicher Erläuterung und Anpassung der sozialen Dreigliederung bereit. Arthur will eben nicht sogleich nach der Gestaltungsmacht greifen … und das Zeitfenster schleißt sich wieder. Steiner meinte, Kaiser Karl hätte während des Kairos die Last der Verantwortung genug gefühlt, um einen ganz neuen Wege einzuschlagen.
Was hätte sein können
• Im bestehenden staatlichen Rahmen die volle nationale
Entfaltung der Völker der Donaumonarchie wäre 1917 durch Soziale Dreigliederung erreichbar gewesen.
• Die wirtschaftlichen Probleme der Nachkriegszeit
wären lösbar geworden, durch den fortbestehenden großen und gewachsenen Wirtschaftsraum der Donauländer.
• Als Vielvölkergebilde für Rassenideologien
nicht zu haben und als für Nazis kaum zu okkupieren, hätte sich ein demokratisches, großes Österreich erwiesen.
• Osteuropa wäre niemals kommunistisch geworden, weil die Oktoberrevolution in Russland nicht stattfindet, wenn Österreich und Deutschland im Spätsommer 1917 nach Osten hin Frieden schließen. Lenin kommt nicht zum Zuge, sein wichtigstes Argument, der sofortige Frieden, ist obsolet.
• Der 2. Weltkrieg und die Judenvernichtung hätte nicht stattgefunden, weil die oben genannten Punkte ein allfälliges Drittes Reich nicht groß werden lassen.
Wir könnten in in Relation zu heute auf einer Insel der Seeligen leben, in einem großen Österreich, dass mit den Ungarn und vor allem mit seinen slawischen Einwohnern kooperiert und im Sinne ehrbarer Kaufleute auf assoziativer Grundlage wirtschaftet.
Das alles wurde damals anno 1917 verspielt. An dieser Stelle möge sich der Leser ein Requiem als in der Seele des Verfassers erklingend vorstellen. Doch könnte man auch im Jahr des Herrn 2019 auf den Gedanken kommen, ein großes Österreich, aus großzügigem Gemüt erbaut, könnte immer noch den Liberalismus über ügeln oder besser in sein berechtigtes Lebensfeld verweisen: ins Geistesleben nämlich. Wer wirtschaftlich echte Win-Win Situationen statt eleganter Ausnutzung den slawischen Nachbarn anbietet, wird dort auf offene Arme stoßen. Dann könnten Österreichischer Geist und slawische Seele ein Verhältnis finden, dass eine gewisse Strahlkraft entwickelt. Politische Einheit ist heutzutage gar nicht unbedingt erforderlich.
In welcher Weise war die Soziale Dreigliederung in den Memoranden von 1917 genau enthalten? Der Wegweiser hat knappe Seitenzahl, wegen knapper Finanzen. Daher folgt der Sachinhalt der Memoranden im nächsten Heft.