Geheimnisvoll am lichten Tag
Lässt sich Natur des Schleiers nicht berauben,
Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,
Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.
(Johann Wolfgang Goethe, Faust I)
Text und Foto: Norbert Liszt
In diesem Zitat aus dem Faust I kommt zum Ausdruck, dass Goethe auf der Suche nach dem Geist in den Dingen der Natur war. Sein Bedürfnis nach Erkenntnis offenbart sich in der Frage des Faust: „Wo fass ich dich, unendliche Natur … ihr Quellen alles Lebens …?“ Befriedigt kann es nur werden, wenn es als wirkliches Erkenntnisbedürfnis „aus der eigenen Seele quillt“ und nicht nur ein Verlangen nach Gelehrtenwissen oder Dogmen ist. Ein Wissen aus Büchern, das wir aufnehmen, ohne es zu verdauen, ohne lebendiges Nachdenken, wird uns diese Befriedigung nicht geben können, war Goethes Überzeugung.
Das obige Zitat macht deutlich welche Ansprüche Goethe an unser Erkenntnisbemühen stellt. Nicht allein die sinnliche Anschauung (der lichte Tag) lässt uns die Natur erkennen. Sie lässt sich so nicht enträtseln und verschleiert ihr wahres Sein. Wenn wir ihren Objekten auch mit physischen Werkzeugen zu Leibe rücken – sie anschauen, zerlegen, vergrößern, messen und wägen – sie werden sich uns nur halb zu erkennen geben. Erst wenn sie sich unserem Geist im Denken offenbaren, bekommen wir ein fülligeres Bild der Wirklichkeit. Anschauen und Denken, sinnliche Erscheinung und Idee gehören zusammen, sind zwei Seiten, die zusammen ein Ganzes ergeben. Die Sinne sind Wahrnehmungsorgane der physischen Erscheinung, das Denken ist Wahrnehmungsorgan der Ideen. Erst das gedankliche Gegenbild, eines Objektes meiner Wahrnehmung, ermöglicht mir, es abzugrenzen von anderen Objekten, aber auch, einen Zusammenhang mit anderen Objekten herzustellen. Ohne Denken erleben wir ein zusammenhangloses räumliches Nebeneinander und zeitliches Nacheinander.
Weit verbreitet ist allerdings die Meinung, dass unser Denken nicht an die Wirklichkeit heranreicht. Was auch immer wir über die Dinge der Außenwelt denken, es sind nur unsere Vorstellungen, die wir ihnen beifügen. Die Welt sei uns nur als unsere Vorstellung gegeben. An das, was die Dinge eigentlich sind, an die Dinge an sich, kommen wir nicht heran. Unser Erkennen kann nur Abbilder schaffen von Seinsbedingungen, die außerhalb unseres Bewusstseins bestehen. Wer sich dieser Ansicht anschließt muss sich klar machen, dass sie seinem Nach-Denken entspringt und der Zweifel an der Urteilsfähigkeit des Denkens auch bei diesem Urteil anzuwenden ist. Hierbei handelt es sich um das Dogma von der Beschränktheit unserer Erkenntnis. Ob unser Denken subjektiver Natur ist und den Wahrnehmungsobjekten etwas beifügt, das keinen Wirklichkeitscharakter hat oder ob es Wahrnehmungsorgan einer höheren Wirklichkeit ist, erfordert die Auseinandersetzung mit der Frage, was das Erkennen ist.
Das Erkennen muss uns das geben, was uns die Sinne vorenthalten, was aber auch wirklich ist. Wir haben das Bedürfnis, was wir sehen, hören, schmecken … auch zu verstehen. Würde die begriffliche Erkenntnis nichts zur sinnfälligen Anschauung dazu liefern und nur ein Abbild schaffen, dann wäre sie nutzlos. Die Begriffe wären dann Nachbildungen von etwas, das in der Anschauung schon vorhanden ist.
Die Sinneserfahrung bietet uns Milliarden von Einzelheiten. Wenn wir diese nicht in eine größere Ordnung, in eine All-Gemeinheit, überführen könnten, würden wir orientierungslos in der Welt stehen. Aus diesem Dilemma kann uns nur die Vernunft heraushelfen und die Sinneserfahrung mit der Idee zusammenbringen. Dieses Bedeutung gebende und Zusammenhang schaffende sind die Prinzipien, die allen Dingen zu Grunde liegen.
Das uns über die Sinne Gegebene tritt uns als Rätsel entgegen, da sich das Wirkende und Bewegende in dem sinnlich Gegebenen nicht zu erkennen gibt. Erst unsere Vernunft, die der sinnlichen Welt eine ideelle, geistige entgegenbringt, kann uns helfen die Rätsel zu lösen. Idealerweise konstruiert unsere Erkenntnis nicht etwas zur sinnlichen Wahrnehmung dazu, sondern nimmt Gegebenes wahr. Dieses Gegebene ist aber geistiger Natur. Wie das Auge Farberscheinungen wahrnimmt, nimmt das Denken Ideen wahr.
Ich mache einen Versuch, lasse einen Stein zu Boden fallen. Die sinnliche Anschauung klärt mich nicht auf über die Fallgesetze. Sie sind das ideelle Gegenbild der Sinneserfahrung. Ich kann Beschleunigung und Weg in einen Zusammenhang bringen und damit die Fallzeit errechnen. Hab ich richtig gerechnet, wird die Beobachtung und Zeitmessung meine Berechnung bestätigen. Berechnung und Sinneserfahrung kann von jedermann nachvollzogen werden. Sie liefern ein objektives Ergebnis. Mein Denken ist Lieferant der Begriffe. In diesem Fall bin ich als Subjekt der Ort der Auffassung eines objektiven Geschehens – der Sinneserfahrung einerseits und der Ideenerfahrung andererseits. Es kann sein, dass ich falsche oder unklare Begriffe habe. Unser Denken kann stumpf sein, wie auch jeder unserer Sinne, aber beide können geschärft werden. Es ist Spekulation, anzunehmen, dass es dabei unüberwindbare Grenzen gibt.
Erscheinen der Idee
Die sinnliche Welt tritt uns als Fertiges gegenüber. Wir waren nicht dabei bei der Produktion ihrer Geschöpfe, sie sind uns daher fremd. Begreifen können wir aber nur etwas, von dem wir wissen, wie es geworden ist. Das ist bei unserem Denken der Fall. An der Bildung des Gedankens, den ich wahrnehme, war ich selbst beteiligt. Der fertige Gedanke ist der Abschluss eines Prozesses, in dem ich drinnen stehe und der mit mir verwachsen ist. Um Dinge in der Außenwelt zu erfassen, die ich wahrnehme, muss ich den Hergang ihres Entstehens verfolgen können. Wenn wir unser Denken diesbezüglich in Bewegung bringen, arbeiten wir uns vom Produkt zu dessen Entstehungsprozess durch. Auf diese Weise wird uns die Sinneswahrnehmung so durchsichtig wie unser Gedanke. „Wir können also erst dann mit einem Dinge wissenschaftlich abschließen, wenn wir das unmittelbar Wahrgenommene mit dem Denken ganz durchdrungen haben. Ein Prozess der Welt erscheint nur dann als von uns ganz durchdrungen, wenn er unsere eigene Tätigkeit ist.“ ¹ Das bedeutet, dass durch den Denkvorgang der Ideengehalt eines Dinges unserer Wahrnehmung erscheint. Die Idee will in uns zur Erscheinung kommen. Geistiges teilt sich einer Geistigkeit mit. Es verwebt sich in unserem Denken. Warum sollte sich die Idee in mir anderes darstellen, als sie in Wirklichkeit ist? Sie muss sich durch viele Widerstände durcharbeiten. Irrtum, Lüge, Gefühlsregungen, Hoffnungen, Ängste, Kulturprägungen … spielen hinein in unsere Gedankenabläufe und wollen die Klarheit der Idee trüben. Sie kann allerdings noch heller und klarer erscheinen, wenn sie sich gegen diese Widerstände behauptet.
Unser Menschsein wäre nur ein Störfaktor im Weltprozess, wenn wir uns nicht denkend in Einklang mit dem Weltgeschehen bringen könnten. Jedes Tier wäre nützlicher in diesem Weltprozess als der Mensch, da es mitunter besser ausgebildete Sinne hat und über seinen Instinkt mit der Natur verbunden ist. Blieben die wahren Seinsbedingungen ewig außerhalb unseres Bewusstseins, dann wären wir dazu verurteilt, gedanklich in einer Parallelwelt zu leben.
Wenn behauptet wird, unser Denken ist ein Prozess, der von unserem Gehirn ausgeht, so ist nichts dagegen einzuwenden. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Gehirntätigkeit der Ursprung des Denkens ist oder ob es etwas gibt, das „hinter“ dem Denken wirksam ist und das Gehirn instrumentalisiert. Wenn die Idee in uns zur Erscheinung kommen will, dann ist sie es, die unser Denken in Bewegung bringt. Will sie im Alltagsbewusstsein erscheinen, benötigt sie das Gehirn als Ausdrucksorgan, da das Alltagsbewusstsein nur das wahrnehmen kann, was einen körperlich-physischen Prozess durchläuft. Der Ursprung aber liegt im Geistigen.
Anschauende Urteilskraft
Goethe glaubte an die anschauende Urteilskraft, die sowohl Sinnliches als auch Geistiges anschaut und die Möglichkeit, durch sie einen Zugang zu den Seinsbedingungen zu finden. Ihn interessierte bei seinen Forschungen vorrangig nicht was die Natur geschaffen hat, sondern nach welchem Prinzip sie es geschaffen hat. Die Gebilde der Natur erscheinen nicht so, wie sie hätten werden können. „Wie wären sie geworden, wenn sie sich ungehindert entfaltet hätten, unabhängig von Standort, Temperatur, Witterung etc.?“ war Goethes Frage. Er war der Idee in den Dingen auf der Spur und wie sie sich ihm offenbaren könnte. Die Urpflanze sollte dieses Gebilde sein, das, wie der reine Gedanke, seine ursprüngliche Form offenbart.
In der Person Goethes vereinte sich Wissenschaft und Kunst und er war der Überzeugung, dass Natur und wahre Kunst aus der gleichen Quelle schöpfen. „Die hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen; da ist Notwendigkeit, da ist Gott.“²
Als Wesen, die nach Freiheit streben erheben wir uns mit einem Teil unseres Wesens über die Natur. Die Natur muss uns freigeben, damit wir uns zu Wesen heranentwickeln können, die fähig sind aus einem freien Willen heraus zu handeln. Dieser freie Wille will aber etwas in der Welt bewirken. Er will Schöpfer sein, mitschaffen und neu schaffen im Weltprozess. Das erfordert ein Wissen von den Gesetzlichkeiten, die den Naturprozessen zu Grunde liegen. Ohne Einstimmung auf diese Prozesse kann dieses Mitschaffen nicht funktionieren. Das Freiwerden von der Natur ermöglicht uns, Erkenntnis über sie zu erlangen und aus dieser Erkenntnis heraus zu handeln. Die Gegenüberstellung von Ich und Welt, das Erfahren der uns umgebenden Welt über die Sinne, sowie unserer Innenwelt und das gedankliche Verarbeiten, im Wahrnehmen der Ideen, sind die Basis unserer Entwicklung zum Schöpfermenschentum.
¹ Rudolf Steiner, GA 1, Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, IX. Goethes Erkenntnistheorie; ² VIII. Von der Kunst zur Wissenschaft
Quellen: Rudolf Steiner, GA 1, Goethes Naturwissenschaftliche Schriften