Die Kunst als Mitte zwischen Wissenschaft und Religion

Text: Norbert Liszt

Mir ist bewusst, dass ich mich an übergroße Welt- und Selbstbezüge des Menschen heranwage, die ich hier auch nur skizieren kann. Es soll eine Darstellung des Herantastens an die Beziehung der Kunst zu Wissenschaft und Religion sein.

Kunst und Natur

Die Natur ist uns gegeben, ist ohne unser Zutun vorhanden. An der Schaffung der Natur waren wir nicht beteiligt und die natürlichen Prozesse laufen im Grunde ohne unseren Beitrag ab. Die Mythen erzählen von schaffenden und wirkenden geistigen Wesen­heiten. In den Naturprozessen erkannte oder erahnte man das Wirken von Naturgott­heiten.

Beim künstlerischen Prozess ist der Mensch der Ausgangspunkt des Geschehens. Wir Menschen sind Schaffende und (Be-)Wirkende. In der Kunst fügen wir der bestehenden Welt etwas Neues ein. Neben der Naturwelt entsteht eine Kunstwelt. Doch idealerweise hat das selbst Geschaffene eine Beziehung zum Naturgegebenen. Die Natur ist Vor-Bild für den Künstler. Er nimmt ihre Gebilde wahr und trachtet danach zu erspüren, welche Kräfte an ihnen tätig sind und wie sie sich ins Weltganze einfügen. Diese bildenden Kräfte versucht er auch in sich wachzurufen.

Religion und Wissenschaft

Die Religion will uns das Vertrauen geben, dass es eine Welt hinter der sinnfälligen gibt und dass es die Wesen dieser Welt gut mit dem Menschen meinen. Es ist ihr Bestreben die Menschen zu lehren die verlorengegangene Verbindung mit der göttlichen Welt wieder herzustellen. Anderer­seits weist sie darauf hin, dass die Gottheit die Verbindung mit dem Menschen aufrechterhält. Wir sind göttlichen Ursprungs und es ist göttliche Substanz, aus der Leib, Seele und die offenbare Welt bestehen. In der demütigen Verehrung und im Vorbild des hinter allem Offen­baren stehenden Göttlichen, aber auch im Mitgestalten des Weltgeschehens, findet der Mensch den Weg zum Guten.

Die Wissenschaft versucht mit Hilfe des denkenden Erkennens den Weltzusammenhang und das menschliche Wesen zu erfassen. Es ist die Ideenwelt, mit der es die Wissenschaft zu tun hat. In dieser Welt betätigt sich der menschliche Geist. Der Erkenntnisprozess fordert von uns die Loslösung von der natürlichen Wirkens­sphäre. Die Welt erkennen heißt zunächst sich der Natur gegenüberzustellen, um sie anschauen zu können. Sie wird zum Bild, und wenn ich zu der Einsicht komme, dass sie nicht Bild an sich, sondern Bild von etwas ist, dann wird diese Einsicht in mir das Bedürfnis nach Erkenntnis von diesem Etwas wecken. Die Wissenschaft versucht zu entdecken, was das Bild (die sinnliche, offenbare Welt) in sich verbirgt und wie das Verborgene offenbar werden kann.

Was ist nun der Wert der Wahrheit? Wie wird sie zu unserer persönlichen Angelegenheit, wie wird sie erlebbar? Denn „…was fruchtbar ist allein ist wahr!“ sagt Goethe. Im Prozess des gewöhnlichen Denkens allein, würden wir die Dinge bloß nüchtern aneinanderreihen und verknüpfen. Wir könnten versäumen, das Lebensfördernde ins Bewusstsein zu rufen.

Der Mensch als Künstler

Soll das Wahre erlebbar und das Gute formbar und dienstbar werden, braucht es die Kunst. Sie ist eine Tat des Herzens. Sie kommt aus unserer Mitte. In unserer Mitte, wo wir uns selbst immer wieder aufs Neue entwerfen müssen, ist der Ort, wo das Neue, das Künstliche, das Künstlerische entsteht. Das künstlerische Schaffen ist somit ein tätiges Hervorbringen aus der Mitte unseres Wesens.

Wenn man sagt, etwas ist künstlich, dann meint man damit, es ist von Menschenhand geschaffen. Will man etwas schaffen, so muss man etwas können. Kunst hat zu tun mit Können und im Grunde schlummert in jedem Menschen ein Künstler. Ich werde also einerseits den Blick auf mich richten und schauen, welche Fähigkeiten ich habe bzw. ausbilden und fördern kann. Andererseits werde ich den Blick nach außen richten und darauf achten, wie das, was von außen auf mich zukommt (sei es auf geistiger oder physischer Ebene) auf mich wirkt. Bin ich empfänglich genug, dann setzt es in mir etwas in Bewegung und regt mein Können an. Von diesem verwandelt wird es im künstlerischen Tun, das sich unterschiedlicher Mittel bedienen kann, der Außenwelt wieder zugeführt. Damit entsteht etwas Neues, etwas Künstliches. Das auf mich Einwirkende ist in mir von meinem Können ergriffen und verwandelt worden. Damit aber aus dem bloß Künstlichen die Kunst werden kann, braucht es ein liebendes Interesse. Das liebende Empfangen äußerer Einwirkungen würde ich ästhetischen Genuss nennen und das mit Liebe getränkte Können wird zur künstlerischen Tat. Die Kunst haucht dem Denken und dem Handeln Seele ein.

In unserer Mitte sind wir Köche. Wir benötigen die Wärme unseres Herzens, um die rohe Nahrung, die uns von außen zukommt, zu einem besonderen Gericht zu verkochen. Die so entstandene Speise ist nicht immer leicht verdau­lich, entscheidend ist jedoch, ob sie lebensfördernd und gesundend wirken kann.

Das Schöne

Ein gutes Kunstwerk ist schön. Was nicht heißen soll, dass es nicht auch scharf, bitter oder schockierend sein kann. Auch das Bittere kann gesundend wirken, wenn es die passende Arznei ist. Schön ist etwas, wenn die geschaffene Form das Lebendige, Wirkende und Bildende erkennen lässt. Ein Werk, bei dem man im sinnlich Wahrnehmbaren den wirkenden, lebendigen Geist erspüren kann und das im Einzelnen Weltprozesse erkennen lässt. Ist das Kunstwerk auch fertig gestellt, so sollte es uns doch das Gefühl geben, dass es im Strom des immer Werdenden, Ursprünglichen drinnen steht.

Auch als Betrachter oder Zuhörer werde ich in den Strom der Kunst hineingezogen, wenn ich mich dem Kunstwerk öffne. Nähere ich mich ihm aber nur distanziert, analysierend, wird mir sein Wesen verborgen bleiben. Ich muss im Anschauen lauschend und schaffend werden und versuchen den künstlerischen Prozess nachzuvollziehen. Das liebende Hingegebensein im Gestalten und Aufnehmen, ist die Grundgebärde aller künstlerischen Betätigung und ästhetischen Empfindung.

Kann jedes Tun Kunst werden?

Die Kunstausübung bleibt nicht nur dem akademisch gebildeten Künstler vorbehalten. Jedes Tun kann zur Kunst veredelt werden, zum Beispiel die Erziehung eines Kindes. Der Erzieher (Vater, Mutter, LehrerIn, KindergärtnerIn etc.) hat es mit einem entwicklungsbedürftigen Wesen zu tun, in dem selbst ein Künstler ruht. Er ist mit einem Kunstwerk beschäftigt, das nicht fertig werden kann und auch nicht fertig werden darf. Das Kunstwerk, das er schafft, ergreift sich schließlich selbst und bildet an sich weiter. Womit eine wichtige Bestrebung der Erziehungskunst genannt ist – der Weg zur Selbstgestaltung.

Das Kind wird erwachsen und fähig sich selbst zu entwerfen. In der Selbstgestaltung sind wir Menschen auf unsere eigenen künstlerischen Kräfte angewiesen. Diese Arbeit kann niemand für uns tun. Verlässt uns hier unsere Kreativ­kraft, dann bleiben wir ein Kunstprodukt im negativen Sinne. Wir sind dann fertig-gestellt und nicht mehr „bildungsfähig“, sind nicht Kunstwerk, sondern künstliches Werk. Jedes wirkliche Kunstwerk lebt und belebt weiter. Es wirkt über es selbst hinaus, da man die gestaltenden Kräfte des Künstlers erspüren kann.

Quellen:

  • Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung , Rudolf Steiner, GA 2, Erkennen und künstlerisches Schaffen.
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