Text und Bild: Wolfgang Schaffer
Aus einer höheren Sicht ist jedes gewöhnliche Selbst einer besonderen Pflege bedürftig. Der anthroposophische Schulungsweg beschreibt dazu verschiedene Pflegestufen. Das Höhere Selbst nimmt sich zur Pflege selbst in die Pflicht.
Sinn im Zeitenstrom
In früheren Zeiten galt es als selbstverständlich und unumgänglich, die Menschen, die durch Alter oder Krankheit einer besonderen Pflege bedurften, im Rahmen der Familie zu pflegen. Heute kommt das nicht mehr allzu häufig vor. Vor allem der erste Lebensabschnitt von der Geburt bis zur beginnenden Selbstständigkeit und der letzte Lebensabschnitt des Menschen ist von der pflegerischen Fürsorge durch Familienangehörige bestimmt. Im Zentrum steht dabei das Bemühen um das Wohlergehen der Hilfsbedürftigen. Wendet man die Aufmerksamkeit aber einmal ausnahmsweise den Helfenden zu, ergibt sich eine andere Dimension des Geschehens. Diese Pflegenden selbst können durch ihren Dienst an den Menschen einen Blick in den Zeitstrom tun, der uns alle umfasst. Wir sind ihm als erwachsene Individualitäten einerseits durch unsere persönliche Vergangenheit schon lange verbunden und erwarten in ihm andererseits alles, was in Zukunft noch auf uns zukommen wird. Pflegende Eltern können Lebenssituationen, die sie in ihrer eigenen Kindheit unbewusst durchlebten, an ihren Kindern begleitend nachempfinden. Ebenso sieht man durch die Pflege von alten Menschen die eigene Zukunft voraus, der man selbst im Alter durch Hilfsbedürftigkeit zulebt.
Im Zuge der sozialen Entwicklung seit dem Mittelalter wurde Pflege zunehmend institutionalisiert. Ausgehend von spirituellen Ordensgemeinschaften, die sich der Krankenpflege widmeten, hat sich in unserer Zeit ein weit verzweigtes öffentliches Gesundheitssystem entwickelt. Es ist somit ein soziales Gefüge entstanden, das Pflegebedürftige aus dem Kreis der Familie in eine größere Hilfsgemeinschaft einbezieht. Sieht man nun vom rein Körperlichen ab und wendet den Blick hin zu dem Geistig-Seelischen in einem Menschenwesen, so bekommt Pflicht und Pflege noch einen ganz anderen Aspekt. Je älter ein Mensch wird, desto klarer tritt die Frage an ihn heran, ob das wesentliche Ziel seines Lebens durch den bisherigen Lebenslauf sichtbar werden konnte. Dieses Ziel liegt ja am Beginn des Lebens völlig im Verborgenen. Es besteht in dem innersten Anliegen des Menschen, sich in die Menschheit mit dem Sein und Werden einzugliedern, das dem eigenen Ich am besten entspricht.
Jeder Mensch wird in eine ganz bestimmte Region der Erde mit ihrer Sprache und Kultur in seine Familie hineingeboren. In diesem Rahmen kann er sein Erdenleben beginnen. Gehen, Sprechen und Denken sind die umfassendsten Begabungen, die sich jeder Mensch in den ersten drei Lebensjahren im Allgemeinen zu eigen macht. Die körperliche Gesundheit das ganze Leben hindurch möglichst gut zu erhalten ist das Grundmotiv des körperlichen Daseins. Die Suche nach dem Sinn des Lebens wird dadurch oft gleichgesetzt mit der Frage nach dem Erhalt der leiblichen Existenz. Da wir in einer Kaufgesellschaft leben, braucht es dazu ein entsprechendes Einkommen. Die Verrichtung einer Erwerbsarbeit zur Erlangung eines Verdienstes wird folgerichtig von jedem Erwachsenen eingefordert. Dieser Ansatz ist soweit berechtigt, als damit jeder Anteil an der Befriedigung von Bedürfnissen hat, die sich aus dem Zusammenleben der Menschen ergeben. Sobald man aber dazu übergeht, die finanziell gesicherte Existenz für das eigentliche Lebensziel zu halten, wirkt das oft auch hinderlich auf die eigene Entwicklung. Viele der Begabungen, die jeder Mensch in sich trägt, bleiben dann verborgen und werden so der Welt entzogen. Sie fehlen dann gerade dort, wo sie eigentlich erwartet werden. Das ist der engste Umkreis jedes einzelnen Menschen. Die Verödung des Alltags gerade in den reichsten Ländern der Erde ist eine Folge des übermäßig getriebenen Strebens nach Verdienst und Konsum.
In dem Mysteriendrama mit dem Titel «Die Prüfung der Seele» lässt Rudolf Steiner den Gelehrten Dr. Capesius im ersten Bild die Worte sagen: «Es haben Geisteswesen ihrer Arbeit Früchte in Menschenseelen eingepflanzt; und Götterwerk vernichtet, wer ungepflegt die Geistessamen lässt verwesen.» Als größte Verfehlung im Leben wird hier angemahnt, den Geistesschatz ungehoben und ungepflegt verfallen zu lassen, den jeder Mensch aus sich heraus entwickeln kann. Die Gründe, sich dieser Verfehlung trotzdem hinzugeben, sind bedeutend und verlockend. Zumeist fehlt es ganz einfach an der Zeit und Kraft, sich über die Last des Alltags hinaus noch ernsthaft zu bemühen. Dann bleibt doch offen, wie gut man z.B. in der Ausübung einer bestimmten Begabung zu werden hofft. Zuletzt gibt es auch die Scheu, sich der ganz persönlichen Kritik auszusetzen, sobald man mit einer Begabung (irgendwie) in Erscheinung tritt.
Das Höhere Selbst
Es gibt auf dem Schulungsweg der Anthroposphie einen Ausdruck, der das Älteste und zugleich auch Jüngste in uns, den Anfang und das Ziel der Selbsterfahrung umfasst. Es handelt sich um das «Höhere Selbst» – den «Höheren Menschen» in uns. Dieses Höhere in uns ist etwas, das jedem Menschen von Geburt an als seine unantastbare Würde innewohnt. Es ist das ewig Keimhafte in uns und doch die höchste Weisheit, der wir unsere innerste Fürsorge zuwenden können. Dieses «Höhere in uns» begleitet uns bereits vom Zeugungsaugenblick auf Erden an als die Kraft, den Leib so auszubilden, wie er zur Erfüllung unserer kommenden Lebensaufgabe am besten geeignet ist. Im Vergleich mit den bereits beschriebenen Lebensaltern, die rein körperlich am Anfang und am Ende jeder Inkarnation der Pflege von außen bedürfen, kann das Höhere Selbst nur vom Ich des Menschen aus selbstbewusst entwickelt werden.
Die Bedingungen zur richtigen Entfaltung des Höheren Selbst im Menschen sind auf dem Schulungsweg der Anthroposophie klar verständlich ausgesprochen. Dieser Weg beginnt mit einer aktiven Erzeugung der Empfindung von Achtung, Bewunderung und Verehrung in der eigenen Seele. Der Keimpunkt dieser Tätigkeit liegt in der Besinnung auf Wahrheit und Erkenntnis auch den größten Schwierigkeiten und Verfehlungen des Lebens gegenüber. Jedes zumeist ganz spontan auftretende Gefühl von Abwertung, Verleugnung und Unterschätzung der Welt und dem Leben gegenüber behindert die Entwicklung des Höheren Menschen in uns. Diese negativen Gefühle sind wie Steine statt Brot als Nahrungsmittel für die Seele. Sie müssen durch energisches Bemühen in positive Kraft verwandelt werden. Wie die Sonne mit ihrem Licht alle lebendigen Wesen belebt, so soll das Gefühl von Achtung, Bewunderung und Verehrung alle Empfindungen der Seele beleben und durchlichten. Wir sind als Selbst dafür verantwortlich, worauf wir uns innerlich begründen.
Innerer Reichtum – Innere Ruhe
Eine zweite Bedingung zur Entwicklung des Höheren Selbst ist das Streben nach innerem Reichtum. Dieser Reichtum hat seinen Ursprung in der inneren Bereitschaft und Regsamkeit, mit der wir den Eindrücken der Außenwelt begegnen. Jede Beobachtung und Wahrnehmung der uns umgebenden Welt kann und soll uns innerlich bereichern. Das hängt aber von dem inneren Grad an Wachheit ab, mit der wir die äußeren Sinnesempfindungen empfangen und aufnehmen können. Dabei geht es nicht um ein verstandesmäßiges Erwägen, was wir aus der Welt für uns gewinnen könnten. Es geht mehr um die innere Geduld und Offenheit, die gesammelten Erfahrungen in der Erinnerung noch einmal aufzurufen und sie ganz genau so anzuschauen, wie sie eben sind. Diese Art von Rückschau macht uns wieder wacher für die Begegnung mit der Welt. Das Mittel dazu bietet der Genuss. Wir müssen uns mit der Welt durch den Genuss verbinden, sonst schließen wir uns von dem Strom des Lebens ab. Die Seele würde ohne entsprechenden Genuss der Welt eine Wüste, ein Ort der innersten Verarmung ohne Anteil an der Schöpfung. Genuss allein für unser egoistisches Behagen führt jedoch auch noch nicht zu innerem Reichtum. Wer nur genießen will, verfällt dem Drang nach immer stärkerem Verlangen. In Wahrheit erlangen wir den Reichtum des höheren Selbst durch freiwilligen Verzicht. Im Empfinden des Genusses kommt es darauf an, bewusst auf weiteren Genuss zu verzichten und ihn dadurch in Erkenntnis zu verwandeln. Es wird so etwas, das bereits in ein Vergehen mündet, in höchster Willenstätigkeit bewahrt. Dieser Zuwachs an Erkenntnis offenbart die Wesenhaftigkeit der Welt als wirkliche Erweiterung des eigenen Selbstes. Pure Genusssucht allein führt hingegen zu einer Verhärtung des Ich nur in sich selbst. Das frei gewollte Eingliedern der Einzelheiten der Natur in die Ganzheit des Höheren Selbst gelingt durch das Genießen und den beschriebenen Verzicht auf weiteren Genuss um der Erkenntnis willen. Jede Idee, die in der Seele auf solche Art zum Ideal erweitert wird, erschafft in ihr ganz neue Lebenskräfte.
Die dritte Voraussetzung ist die Erlangung von innerer Ruhe und die Fähigkeit zur Unterscheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen. An dieser Stelle berührt sich die eingangs dargestellte Situation der körperlich bedingten Notwendigkeit der Pflege von außen mit den Anforderungen des anthroposophischen Schulungsweges. Es handelt sich jetzt darum zu lernen, sich selbst wie einem völlig fremden Menschen zu begegnen. Die Objektivität, mit der man sich gewöhnlich selbst beurteilt, ist ganz offensichtlich eingeschränkt. Der Blick auf die eigene Persönlichkeit soll sich nun so stark erweitern, dass man sich wie von außen anschauen kann. Die Freuden und Leiden, die man durchlebt, der ganze Schicksalsweg wird in ruhiger Besonnenheit vom Standpunkt der direkten Betroffenheit erlöst. Man lernt sein Selbst von einer höheren Warte aus zu sehen. Das Höhere Selbst wird dadurch langsam aufgeweckt; es begleitet uns ja immer schon im Überbewussten unbemerkt in allen Lebensaugenblicken. Man wird etwas humorvoll ausgedrückt, sein eigener «Pflegefall», den es gilt, mit allem zu versorgen, was die notwendigen Entwicklungsschritte auf dem Lebensweg erfordern. Ganz einfach und praktisch kann es darum gehen, jede Art von Ärger oder Ungeduld zu vermeiden, indem man sich darauf besinnt, die Eindrücke der Außenwelt nur auf selbstbestimmte Weise in sich aufzunehmen. Die Kraft der inneren Ruhe und Beständigkeit wirkt sich auch darauf aus, Furchtsamkeit im Handeln durch die aus innerer Ruhe gewonnene Willensstärke auszugleichen. Sein Höheres Selbst mit dem Abstand eines Fremden zu pflegen, kann zu einer inneren Pflicht erhoben werden. Damit geht eine tiefgreifende Verwandlung des gesamten Seinserlebens einher. Man lernt sich selbst, sein ganzes bisheriges Gerüst von Gewohnheiten und Einstellungen so kennen, wie wenn man auf einen unbekannten Menschen trifft in einem Land, das man noch nie zuvor betreten hat. Die liebevolle, pflichtbewusste Pflege dieses Urvertrauten, Unbekannten tief in uns macht uns gesund! Ein Wahrspruchwort Rudolf Steiners kann dazu richtungsweisend sein.
«Im Denken erwache,
du bist im Geisteslicht der Welt.
Erlebe Dich als leuchtend,
das Leuchtende tastend.
Im Fühlen erwache,
du bist in den Geistestaten der Welt.
Erlebe Dich die Geistestaten fühlend.
Im Wollen erwache,
du bist in den Geisteswesen der Welt.
Erlebe Dich die Geisteswesen denkend.
Im ICH erwache,
du bist in Deinem eigenen Geisteswesen.
Erlebe Dich Sein von Göttern empfangend
und Dir selbst gebend.»