Freiheit, Erkenntnis, Spiritualität

Der Mensch ist dem Weltlaufe gegenüber nicht ein müßiger Zuschauer, der innerhalb seines Geistes das bildlich wiederholt, was sich ohne sein Zutun im Kosmos vollzieht, sondern der tätige Mitschöpfer des Weltprozesses.

Dieses zusammenfassende Resultat von Rudolf Steiners Dissertation hat Konsequenzen für eine Theorie und Praxis der Erkenntnis sowie für die Ethik: die Wirklichkeit kann nicht ohne aktiven Beitrag des Menschen hervorgebracht werden. Und die Gestalt der Wirklichkeit ist zunehmend auch von seinem handelnden Beitrag abhängig. Der Mensch ist somit weder vollständig an sein So-sein gebunden, noch beliebig frei, sondern hat die Möglichkeit, sich zunehmend zu einem freien Wesen durch eigene Kraft zu entwickeln.

Erkennen und künstlerisches Schaffen

Gewöhnlich glaubt man, der Inhalt der Wissenschaft sei ein von außen aufgenommener; ja man meint, der Wissenschaft die Objektivität in einem um so höheren Grad wahren zu können, als sich der Geist jeder eigenen Zutat zu dem aufgefaßten Stoff enthält. Unsere Ausführungen haben gezeigt, daß der wahre Inhalt der Wissenschaft überhaupt nicht der wahrgenommene äußere Stoff ist, sondern die im Geiste erfaßte Idee, welche uns tiefer in das Weltgetriebe einführt, als alles Zerlegen und Beobachten der Außenwelt als bloßer Erfahrung. Die Idee ist Inhalt der Wissenschaft. Gegenüber der passiv aufgenommenen Wahrnehmung ist die Wissenschaft somit ein Produkt der Tätigkeit des menschlichen Geistes.

Damit haben wir das Erkennen dem künstlerischen Schaffen genähert, das ja auch ein tätiges Hervorbringen des Menschen ist. Zugleich haben wir aber auch die Notwendigkeit herbeigeführt, die gegenseitige Beziehung beider klarzustellen.

Sowohl die erkennende wie die künstlerische Tätigkeit beruhen darauf, daß der Mensch von der Wirklichkeit als Produkt sich zu ihr als Produzenten erhebt; daß er von dem Geschaffenen zum Schaffen, von der Zufälligkeit zur Notwendigkeit aufsteigt. Indem uns die äußere Wirklichkeit stets nur ein Geschöpf der schaffenden Natur zeigt, erheben wir uns im Geiste zu der Natureinheit, die uns als die Schöpferin erscheint. Jeder Gegenstand der Wirklichkeit stellt uns eine von den unendlichen Möglichkeiten dar, die im Schoße der schaffenden Natur verborgen liegen. Unser Geist erhebt sich zur Anschauung jenes Quelles, in dem alle diese Möglichkeiten enthalten sind. Wissenschaft und Kunst sind nun die Objekte, denen der Mensch einprägt, was ihm diese Anschauung bietet. In der Wissenschaft geschieht es nur in der Form der Idee, das heißt in dem unmittelbar geistigen Medium; in der Kunst in einem sinnenfällig oder geistig wahrnehmbaren Objekte.

– Rudolf Steiner: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung mit besonderer Rücksicht auf Schiller, GA 2, Dornach 1979, S. 131f

Die Aufgabe der Erkenntnis

Das Resultat dieser Untersuchungen ist, daß die Wahrheit nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die ideelle Abspiegelung von irgendeinem Realen ist, sondern ein freies Erzeugnis des Menschengeistes, das überhaupt nirgends existierte, wenn wir es nicht selbst hervorbrächten. Die Aufgabe der Erkenntnis ist nicht: etwas schon anderwärts Vorhandenes in begrifflicher Form zu wiederholen, sondern die: ein ganz neues Gebiet zu Schaffen, das mit der sinnenfällig gegebenen Welt zusammen erst die volle Wirklichkeit ergibt. Damit ist die höchste Tätigkeit des Menschen, sein geistiges Schaffen, organisch dem allgemeinen Weltgeschehen eingegliedert. Ohne diese Tätigkeit wäre das Weltgeschehen gar nicht als in sich abgeschlossene Ganzheit zu denken. Der Mensch ist dem Weltlaufe gegenüber nicht ein müßiger Zuschauer, der innerhalb seines Geistes das bildlich wiederholt, was sich ohne sein Zutun im Kosmos vollzieht, sondern der tätige Mitschöpfer des Weltprozesses; und das Erkennen ist das vollendetste Glied im Organismus des Universums.

Für die Gesetze unseres Handelns, für unsere sittlichen Ideale hat diese Anschauung die wichtige Konsequenz, daß auch diese nicht als das Abbild von etwas außer uns Befindlichem angesehen werden können, sondern als ein nur in uns Vorhandenes. Eine Macht, als deren Gebote wir unsere Sittengesetzte ansehen müßten, ist damit ebenfalls abgewiesen. Einen «kategorischen Imperativ», gleichsam eine Stimme aus dem Jenseits, die uns vorschriebe, was wir zu tun oder zu lassen haben, kennen wir nicht. Unsere sittlichen Ideale sind unser eigenes freies Erzeugnis. Wir haben nur auszuführen, was wir uns selbst als Norm unseres Handelns vorschreiben.

Die Anschauung von der Wahrheit als Freiheitstat begründet somit auch eine Sittenlehre, deren Grundlage die vollkommen freie Persönlichkeit ist.

Diese Sätze gelten natürlich nur von jenem Teil unseres Handelns, dessen Gesetze wir in vollkommener Erkenntnis ideell durchdringen. Solange die letzteren bloß natürliche oder begrifflich noch unklare Motive sind, kann wohl ein geistig Höherstehender erkennen, inwiefern diese Gesetze unseres Tuns innerhalb unserer Individualität begründet sind, wir selbst aber empfinden sie als von außen auf uns wirkend, uns zwingend. Jedesmal, wenn es uns gelingt, ein solches Motiv klar erkennend zu durchdringen, machen wir eine Eroberung im Gebiet der Freiheit.“

– Rudolf Steiner: Wahrheit und Wissenschaft, Vorrede, GA 3, Dornach 1958, S. 10f

Erkenntnisweg, Meditation & Übungen

In ihrem Kern ist Anthroposophie ein Weg, der Stufenweise das Wesen des Menschen enthüllt und den einzelnen Menschen durch die Selbsterkenntnis zu einem Erkennen des Geistigen in der Welt führen kann. Sie ist ein Weg der Liebe. Der Beginn dieses Weges führt durch Demut und Ehrfurcht; zusammen mit einem Studium geisteswissenschaftlicher Zusammenhänge bilden diese einen ersten Schritt dieses Weges. Der Erwerb von Aufmerksamkeit und seelischem Gleichmut, eine vertiefende Beachtung und Beobachtung der sinnlichen Welt können nächste Schritte sein. Sie führen zu einem neuen Erfahrungsbereich seelisch-geistiger Beobachtung (Imagination), der in weiterer Vertiefung zuerst ein eine verstehende Einheit mit geistigen Kräften und Vorgängen (Inspiration) und schliesslich zum Leben in einem höheren Ich mit geistigen Wesen des Kosmos führen kann. Anthroposophie ist ein Weg und ihre Erkenntnisse sind Orientierungen für Reisende.

Auf der ganzen Welt gibt es Menschen, die diesen Weg gehen und auch lehren.

In den Texten auf den folgenden Seiten finden sich eine Reihe grundlegener Übungen zur Entwicklung einer Geistes-Gegenwart, die die gegenwärtigen Bewusstseins- und Zivilisationsbedingungen respektieren und zugleich zu Kräften führen, die diese nachhaltig verändern können.

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Reinkarnation & Karma

Die seit der Neuzeit wachsende Verantwortung des Menschen für sich selbst und seine Lebenswelt hat auch Konsequenzen für das eigene geistige Sein: einerseits wird der Mensch zunehmend das, was er selbst aus sich gemacht hat. Andererseits ist er konfrontiert mit den Folgen der eigenen Taten in der Welt. Beides ist in der Gegenwart in seinen zivilisatorischen Folgen unübersehbar. Der Gedanke der Wiederverkörperung des individuellen Geistes und des Schicksals im Sinne der Anthroposophie beinhaltet, dass dieser Zusammenhang von Selbstbestimmung und Selbstsein bzw. von Handlung und Verantwortung auch dann bestehen bleibt, wenn zeitlich die Grenzen von Geburt und Tod überschritten werden.

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Freiheit – die Grundmaxime

„Frei ist nur der Mensch, insofern er in jedem Augenblicke seines Lebens sich selbst zu folgen in der Lage ist. Eine sittliche Tat ist nur meine Tat, wenn sie in dieser Auffassung eine freie genannt werden kann. […]

Die Handlung aus Freiheit schließt die sittlichen Gesetze nicht etwa aus, sondern ein; sie erweist sich nur als höherstehend gegenüber derjenigen, die nur von diesen Gesetzen diktiert ist. Warum sollte meine Handlung denn weniger dem Gesamtwohle dienen, wenn ich sie aus Liebe getan habe, als dann, wenn ich sie nur aus dem Grunde vollbracht habe, weil dem Gesamtwohle zu dienen ich als Pflicht empfinde? Der bloße Pflichtbegriff schließt die Freiheit aus, weil er das Individuelle nicht anerkennen will, sondern Unterwerfung des letztern unter eine allgemeine Norm fordert. Die Freiheit des Handelns ist nur denkbar vom Standpunkte des ethischen Individualismus aus.

Wie ist aber ein Zusammenleben der Menschen möglich, wenn jeder nur bestrebt ist, seine Individualität zur Geltung zu bringen? Damit ist ein Einwand des falsch verstandenen Moralismus gekennzeichnet. Dieser glaubt, eine Gemeinschaft von Menschen sei nur möglich, wenn sie alle vereinigt sind durch eine gemeinsam festgelegte sittliche Ordnung. Dieser Moralismus versteht eben die Einigkeit der Ideenwelt nicht Er begreift nicht, daß die Ideenwelt, die in mir tätig ist, keine andere ist, als die in meinem Mitmenschen. Diese Einheit ist allerdings bloß ein Ergebnis der Welterfahrung. Allein sie muß ein solches sein. Denn wäre sie durch irgend etwas anderes als durch Beobachtung zu erkennen, so wäre in ihrem Bereich nicht individuelles Erleben, sondern allgemeine Norm geltend. Individualität ist nur möglich, wenn jedes individuelle Wesen vom andern nur durch individuelle Beobachtung weiß. Der Unterschied zwischen mir und meinem Mitmenschen liegt durchaus nicht darin, daß wir in zwei ganz verschiedenen Geisteswelten leben, sondern daß er aus der uns gemeinsamen Ideenwelt andere Intuitionen empfängt als ich. Er will seine Intuitionen ausleben, ich die meinigen. Wenn wir beide wirklich aus der Idee schöpfen und keinen äußeren (physischen oder geistigen) Antrieben folgen, so können wir uns nur in dem gleichen Streben, in denselben Intentionen begegnen. Ein sittliches Mißverstehen, ein Aufeinanderprallen ist bei sittlich freien Menschen ausgeschlossen. Nur der sittlich Unfreie, der dem Naturtrieb oder einem angenommenen Pflichtgebot folgt, stößt den Nebenmenschen zurück, wenn er nicht dem gleichen Instinkt und dem gleichen Gebot folgt.

Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime der freien Menschen. Sie kennen kein anderes Sollen als dasjenige, mit dem sich ihr Wollen in intuitiven Einklang versetzt; wie sie in einem besonderen Falle wollen werden, das wird ihnen ihr Ideenvermögen sagen.“

– Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit, 9. Kapitel: „Die Idee der Freiheit“, Dornach 1978, S. 164f

Kosmologie, Mythologie, Religion

In der Vergangenheit hat die kulturelle und individuelle Identitätsbildung weitgehend durch die „grossen Erzählungen“ der Menschheit stattgefunden: Mythen der Weltentstehung, Offenbarungen und Prophezeihungen, die religionsstiftenden Urkunden.Die Neuzeit hat an diese Stelle zunehmend eine natur-orientierte „Erzählung“ gesetzt.
Ermangelte die frühere Form der Identitätsbildung einer wissenschaflichen Form, die unabhängig von Offenbarung und Religion ist, so setzt die an der Natur gewonnene Einsicht über den Menschen der Frage nach seinem eigenen Wesen enge Grenzen.
Seit dem 20. Jahrhundert stellt sich die Frage, ob der Mensch und sein Verhältnis zu einem Göttlichen Gegenstand einer wissenschaftliche Betrachtung sein kann, ohne in vor-aufklärerische Haltungen zurückzufallen.

Anthroposophie ist ein Versuch, diese Frage positiv zu beantworten.

Einerseits können die durch die neuzeitliche Entwicklung gewonnenen Fähigkeiten auch für eine übersinnliche Erforschung der Entstehung und Entwicklung von Mensch und Welt erweitert werden, so dass neue „Erzählungen“ entstehen, die auf die produktive Kraft des einzelnen Menschen bauen.
Andererseits kann so die Beschäftigung mit „alten Erzählungen“ zu einem vertieften Menschenverständnis und zu einer menschheitlichen Toleranz und Akzeptanz beitragen.

Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit

Mit freundlicher Genehmigung durch anthromedia.net zur Verfügung gestellt.