Text: Wolfgang Schaffer
Meisterschaft bedeutet die höchsten Fähigkeiten auf einem bestimmten Gebiet erlangt zu haben. Ein Meister schafft es auch unter schwierigsten Umständen sein Werk durch die gekonnte Handhabung der Werkzeuge und des Materials so zu gestalten, wie es seinen Wünschen entspricht. Wo sich Widerstände zeigen, werden sie zum Grund, das Werk in eine der Schwierigkeit entsprechend höhere Vollkommenheit zu führen. Widerstände meistern heißt demzufolge, sie in das Ziel zu integrieren.
Schwerkraft im Gleichgewicht
Wenn es sich bei dem Material und dem Werkzeug um das eigene Leben und den eigenen Körper handelt, wird jeder Mensch im Laufe seines Lebens zum Meister seines Schicksalsweges. Wie auch immer sich ein Menschenleben nach außen darstellt ist nicht wesentlich. Die Meisterschaft im Leben wird durch alle Widerstände hindurch ausnahmslos von jedem Erdenmenschen letztendlich errungen. Jedes Scheitern ist nur scheinbar ein Verlust. Versagen ist nicht der Rede wert. Zeitenweise Selbstaufgabe ist nur ein Augenblick des Innehaltens vor dem nächsten Schritt zur stärkeren Selbstverwirklichung. Selbst Krankheit und Tod hindern nicht den Aufstieg zu höherem Leben – sie bereiten ihn gerade vor. Sobald wir in der Gestalt eines menschlichen Organismus zur Verkörperung gelangen, unterliegen wir den Kräften dieser Erde. Mit der physischen Geburt sind wir dem Leibe nach der Wirkung einer allgegenwärtigen Schwerkraft unterworfen. Sie wirkt ganz unabhängig von den auf der Erde herrschenden Verhältnissen von Licht, Wärme und Luft. Der erste große Widerstand, dem wir uns gezielt und unermüdlich auf der Erde entgegenstellen, ist die Schwerkraft. Diese Kraft zieht unseren Körper permanent zum Mittelpunkt der Erde hin nach unten. Im Laufe seines ersten Lebensjahres lernt der Mensch sich dieser Schwerekraft immer stärker durch die eigene Muskelkraft zu entziehen. Irgendwann gelingt es ihm schließlich, den Zug nach unten durch den Aufstand in das freie Gleichgewicht zu überwinden. Herrlich ist dieses Schauspiel, bei dem ein kleiner Erdenmensch zu seiner ersten Meisterschaft gelangt! Wackelig schwankt er die ersten Schritte aufgerichtet durch die Welt, bis es ihn schließlich wieder zu Boden zieht. Der Wechsel von Waagerechte und Senkrechte wird sich vom ersten freien Aufrichten an unablässig das ganze Leben hindurch fortsetzen. Tag und Nacht verbinden sich mit den Zuständen von Wachen und Schlafen. Aufgerichtetes Tätigsein erfüllt den hellen Tageslauf im Wechsel mit dem zur Ruheliegen in der Nacht. Den Anspruch einer «Meisterschaft» dem Gehenlernen gegenüber zu erheben, kann als Trivialität missverstanden werden. So unscheinbar und einfach soll eine höchste Fähigkeit zu erlangen sein? Wer die Ausführungen Rudolf Steiners zur geistigen Führung der Menschheit liest, wird die Begründung für den Anspruch dazu finden. Gerade ganz am Anfang unseres Erdenlebens spielen eben schon die höchsten geistigen Kräfte die wesentliche Rolle. Mit dem Gehen, Laufen und Springen lernt der Mensch die Freiheit auf der Erde kennen. Zwar ist er noch durch seine Fußsohlen an die Erde gebunden, es steht ihm aber frei, die Richtung seines Weges zu bestimmen. Die Schwerkraft wird als Widerstand im Leben dadurch gemeistert, dass der Mensch das Gleichgewicht erlangt zwischen Erdenschwere und der Leichtigkeit der Luft. Dazu braucht es ungefähr ein Jahr des geduldigen Übens. Es tut gut, sich von Zeit zu Zeit durch einen Luftsprung für einen Augenblick ganz der Schwere zu entheben. Man feiert dadurch immer wieder auch seinen ersten Meistertitel als Menschenwesen!
Soziale Beweglichkeit
Im Laufe des Erwachsenwerdens kommt bald ein zweites Schwerefeld zum Vorschein. Es gibt im Leben Hindernisse, die sich nicht endgültig überwinden lassen. Sie tauchen einfach regelmäßig immer wieder auf, selbst wenn man sich jeweils neu davon befreit. Dazu gehören neben körperlicher Müdigkeit, Hunger und Durst auch die Sehnsucht nach Sinnesreizen zur Befriedigung der Seele. Der Drang nach Nahrung in Form von Essen und Trinken dient der Selbsterhaltung unserer leiblichen Existenz. Sobald die Sättigung erreicht ist, kommt es im Arbeitsleben darauf an, den Körper von dem nur wohlig weiteren Genießen loszulösen um ihn einer gezielten Tätigkeit zuzuwenden. Was den Kindern allzu leicht fällt – das Essen um des Spielens willen jederzeit auch sein zu lassen – gelingt mit zunehmendem Alter offensichtlich schwerer. Auch diese Schwere muss täglich im inneren Widerstand neu überwunden werden. Der Meistertitel hierfür wird aber nicht mehr unbewusst errungen wie das erste Gehenlernen. Um auf einem bestimmten Gebiet des Lebens Fähigkeiten zu erlangen kommt es darauf an, sich irgendwann «auf die eigenen Füße zu stellen» und dementsprechend die Verantwortung für sein eigenes Tun zu übernehmen. Die Überwindung der eigenen Trägheit und Bequemlichkeit entspricht hier auf dem seelischen Gebiet dem Vorgang des körperlichen Aufrichtens im Laufe des ersten Jahres nach der Geburt. Das Leben in einer Menschengemeinschaft ist durchwegs von Gesetzen des Verhaltens und Benehmens geprägt. Diese Normen können als Hindernisse und Widerstände auf dem Weg der Selbstverwirklichung erlebt werden. Meisterschaft auf diesem Feld erlernt der Mensch auf seinem Weg mit der Familie, in der Schule und in der Ausübung seines Berufes. Es geht dabei um die Erlangung eines Gleichgewichts zwischen echter Eigenständigkeit und der Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der Mitwelt. Der Widerstand im Sozialen muss gemeistert werden, indem man seine eigenen Wünsche einer wachen Prüfung unterzieht und den Eigenwillen bei Bedarf aus freier Einsicht zähmt. Im Einklang mit anderen Menschen, Tieren, und Pflanzen zu leben bedeutet trotzdem auch das eigene Wesen zur vollen Entfaltung zu bringen. Wer sich auf dem Boden des Sozialen im Zusammenleben auf die eigenen Füße stellen und das Gleichgewicht erhalten kann, gewinnt auch hier die Freiheit, unbeschadet seinen Weg zu gehen.
Bild: Herzdenken, Gerhard Anger
Geist und Mensch
Ein drittes großer Hindernis das uns zur Meisterschaft geleiten kann, liegt ganz in der eigenen Persönlichkeit verborgen. Es handelt sich um das bewusste Erleben eines existentiellen inneren Abgrundes. Bisher kam alles von außen an das Selbst heran. An den Kräften der äußeren Natur sowie an den Anforderungen der menschlichen Kultur galt es, die eigenen Kräfte und den inneren Willen so weit als möglich tragfähig zu machen. Ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung ist an diese Tragekraft gebunden. Nun beginnt die große Rätselfrage, worauf das bisher entwickelte Selbstbewusstsein eigentlich gegründet ist. Die angeborenen Begabungen und die gelernten Fähigkeiten reichen an dieser Stelle nicht mehr aus, um aufrecht im inneren Dasein zu bestehen. Die Frage nach dem Urgrund unserer eigenen Persönlichkeit wird an einem Abgrund wahrnehmbar, der alles Sinnensein umfasst. Dieser Ruf nach Selbsterkenntnis vollzieht sich völlig unbemerkt von aller Außenwelt. Jenseits des Abgrundes liegt das Erkenntnisfeld, auf dem die Frage nach dem eigentlichen Sein in unserem Höheren Selbst eine Antwort findet. Um den Abgrund zur Geisterkenntnis zu bemeistern, braucht es Seelenfähigkeiten, die nur durch Übung zur Entfaltung gebracht werden können. Der Schulungsweg der Anthroposophie bietet dazu reichhaltige Anweisungen. Es geht dabei im Wesentlichen um die Eigenschaften des Erkenntnismutes zur Überwindung der Furcht vor dem Geist, der Erkenntnisfreude und Begeisterung zur Bezähmung des Hasses auf das Geistige und des fleißigen Erkenntnisschaffens zur Verdrängung des Zweifels an der Kraft des Geistigen. Diese Eigenschaften werden dann zu Schwingen, die uns über den Abgrund des Seins hinübertragen können. Es ist auch dieses Mal ein sich Erheben und Aufrichten im Wollen, Fühlen und Denken, das uns die Freiheit im geistigen Dasein ermöglicht. Wer sich allmählich als Mensch und Geisteswesen kennenlernt, sieht sich in seiner Welt nicht mehr allein. Er ist als Geist umgeben von Geistigkeit, wie sich auch hier der Mensch von seinen Mitmenschen und der äußeren Natur umgeben sieht. Die Geisterkenntnis wird an dem eigenen Selbst zuerst bewusst. Im Umgang mit den Wesen der geistigen Welt braucht es nun Anhaltspunkte, die nicht mehr auf Erden zu finden sind. An dieser Stelle tritt der Zeitgeist Michael in Erscheinung. Er ist ein Geistwesen, das sich innerhalb der Ordnungen der geistigen Welt gerade auch gegen Widerstände weiterentwickelt. Seine Gegnerschaft sind dort Kräfte, die im Göttlichen Dasein eigene, selbstbezogene Ziele verfolgen und die aus diesem Grunde in der geistigen Welt keinen Platz mehr finden können. Der esoterischen Überlieferung gemäß hat sich der Archangelos – Erzengel Michael ertüchtigt, diese Eigenmächtigkeiten aus der geistigen Welt hinauszustoßen. Sie sind dadurch vom Himmel zu uns Menschen auf die Erde gefallen. Hier versuchen sie mit allen Mitteln, die Geistigkeit des Menschen ihren Eigenzielen einzugliedern. An der Auseinandersetzung mit den Widerständen in der geistigen Welt ist Michael soweit gewachsen, dass er in den Rang eines Arche – Zeitgeistes erhoben wurde. Dies bedeutet, dass er gegenwärtig eine Entwicklungsepoche hindurch die ganze Menschheit in die Zukunft führt. Michael tastet dabei unseren freien Willen niemals an. Er schenkt uns die Kraft, Gedanken zu erfassen, die uns über den herrschenden bloßen Materialismus hinweg wieder in einen zeitgemäßen Zusammenhang mit der göttlichen Welt bringen können. Im Gegensatz zu Michael zwingt der durch ihn aus der geistigen Welt verbannte «Fürst der Welt» seine Herrschaft allen unerbittlich auf, die sich seiner nicht erwehren können. In den Anthroposophischen Leitsätzen wird der Zeitgeist Michael als der «feurige Gedankenfürst des Weltalls» bezeichnet, der in jedem Augenblick den Menschen hilft, die sich mit ihren Gedanken und Herzen an ihn wenden. Aus ihrer geistlosen Ohnmacht kann sich die Menschheit neu erheben, wenn sie lernt, die Hilfe des Zeitgeistes Michael richtig anzunehmen. Seiner Eigenart gemäß wartet er geduldig zu, bis die Menschen aus eigener Initiative tätig werden. Ist dann irgendwo ein erster Schritt aus gutem Willen menschlich frei gesetzt, dann kann in jeder Hinsicht die volle Unterstützung durch den Zeitgeist wirksam werden. Ein Wahrspruchwort Rudolf Steiners lässt das für uns an jedem Tag neu zur Gewissheit werden.
«Wir Menschen der Gegenwart
Brauchen das rechte Gehör
Für des Geistes Morgenruf,
Den Morgenruf des Michael.
Geist-Erkenntnis will
Der Seele erschließen
Dies wahre Morgenruf-Hören.»