Text: Reinhard Apel
Was das durch Technik generierte Bild nicht kann
Lesen von Büchern hat an Bedeutung verloren. Noch weiter weg rückt das Vorlesen, weil heute Filme, Bilder und Texte ganz leicht vom Bildschirm abgerufen werden können. Das vom Gerät erzeugte Bild gibt vor, wie es in mir nacherlebt wird. Es ist fertig und ich bin nicht aktiv. Dafür kann es mangels Eigenaktivität besser in die Tiefe der Seele abtauchen, weil die Abschirmung des „Selber-Machens“ und Bildentstehens im Inneren fehlt.
Wer nun selbst seinen Kindern, Freunden, Gefährten in der Wohngemeinschaft usw. vorliest oder frei erzählt, wird in der Regel nicht die sprachliche Perfektion des Drehbuches oder der Präsentation erreichen, die vom Bildschirmgerät herübertönt. Jedoch entsteht das Bild ganz persönlich in der Seele des Hörenden. Zwar ist dieser zunächst auch passiv, doch ist das Selbsterschaffen des inneren Bildes eine Eigenaktivität.
„Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald ….“
Es kann sein, dass Hänsel und Gretel bei dem einen Kind innerlich scharf nachgezeichnet werden, beim anderen gar nicht deutlich. Der Wald kann ganz unbestimmt sein, mehr eine Stimmung von Wald. Der wiederum kann ein Nadelwald sein, ein kahler Winterwald, ein reichbelaubter Sommerwald, er kann viele Büsche enthalten oder voller breiter Wege sein – was auch immer. Das Knusperhäuschen wiederum kann lediglich eine schiefe Hütte sein, oder auch mit äußerst schmackhaften und duftenden Lebkuchen reich ausgestattet werden. Bei meinem Bruder vermutete ich die inneren Lebkuchen immer deutlich voller und gschmackiger als in meinem inneren Bild. Genauso kann aber die zuhörende Person auch die Situation der Verlassenheit in der Fremde, die latente Gefährlichkeit, die Dunkelheit und vieles mehr für sich in den Vordergrund des Erlebens rücken. Man weiß selbst vorher nicht, in welcher Art das innere Bild sich ausformen wird.
Es entsteht beim Hören ohne Schirm immer ein inneres Bilderleben. Ganz ein persönliches und frei geformtes. Und das ist der Ausgleich für die von Apparaten gelieferten Bilder, denen sich auch der Autor zugegebenermaßen von Zeit zu Zeit überlässt. Aber die inneren Bilder erfrischen ganz anders.
Wer das als Kind geübt habend, die Bühne der anthroposophischen Szene betritt, wird erstens rasch verstehen, warum Zoom oder Moodle nicht dauerhaft über den Präsenzunterricht siegen sollten. Auch wird er einsehen, warum der Waldorflehrer so unglaublich viel Vorbereitung des Unterrichtes zu absolvieren hat und in der Regel den Stoff frei vortragen muss. Weiters warum die Schüler – bis 14 jedenfalls – mehr bildhaft und recht wenig abstrakt unterrichtet werden. Von 7 bis 14 – wir erinnern uns – sind wir im sogenannten 2. Jahrsiebt der Menschenkunde. „Die Welt ist schön“ ist da Leitsatz und die bisherigen Waldorftipps wollten das Thema verschiedenseitig beleuchten.
Wer als Erwachsener die anthroposophischen Szene betritt, wird weiters nicht allzu überrascht sein, wenn die erste Stufe der inneren Wahrnehmung spiritueller „Dinge“ die Imagination ist: Das innere Gewahrwerden der Geistigen Welt in Bildern.