Das Gute beschließen

Text: Wolfgang Schaffer, Wien

Um das Gute zu bestimmen, bedarf es des Menschen. Seinem Wohl und seiner Vollkommenheit dient ja das Gute, das er beschließen und vollziehen kann. Es muss sich dabei gar nicht um etwas Außergewöhnliches handeln. Jeder Mensch, der einen Dienst am anderen Menschen im Rahmen seiner Arbeit gewissenhaft und somit gut erfüllt, hat Anteil an dem Guten, das der Menschheit dient. Was seinem Wesen und seiner Existenz hingegen Schaden zufügt, steht diesem Guten entgegen.

Man kann den Mangel an Gutem als das Übel und im Falle eines bewussten Verursachens als das Böse einstufen. Das Gute stellt im Leben eher den Regelfall dar. Naturkatastrophen oder Krankheiten zum Beispiel wurden in alten Zeiten dementsprechend oft als Folgen des eigenen unguten Handelns angesehen. Die Götter ließen dieser Ansicht nach ein Unheil geschehen, um die fehlgeleiteten Menschen durch eine solche Bedrohung ihres gewohnten Lebens zur Umkehr zu bewegen. Um den Schaden wieder gutzumachen, bedurfte es einer gewissen Bemühung, das verlorene Gute wiederherzustellen. Alles kultische Handeln diente dazu. Es ging und geht bei diesem Ringen um das Gute im Leben bis heute im Wesentlichen um das Verhalten des Menschen sich selbst und seiner Umgebung gegenüber. Gott, der Mensch und die geschaffene Natur sind als das ursprüngliche Gut anzusehen. Solange sich der Mensch an die ihm göttlichen eingegebenen Gesetze und Gebote hält, bleibt er geschützt im Strom des Guten. Sobald er sich davon entfernt, droht Unheil und die damit verbundene mühevolle Selbstverantwortung. Das Gute muss dann entweder durch den fortwährenden Versuch der Versöhnung mit der göttlichen Welt wiedererlangt oder ganz auf eigene Faust gesucht und getan werden. Ohne diesen menschlichen Maßstab befinden wir uns rein im Gefüge von Ursache und Wirkung im Zusammenhang von unpersönlichen Naturkräften. Ein herabstürzender Felsbrocken ist an und für sich weder gut noch böse. Immer steht die Beurteilung der konkreten Situation durch ein menschliches Bewusstsein im Mittelpunkt der Fragestellung. Ob es sich bei einem Geschehen um etwas Gutes oder Böses handelt, kann nur durch den Bezug auf ein verursachendes Wesen bestimmt werden, das in Freiheit handelt. Einer Dürreperiode, Überflutungen oder einem reißenden Tier gegenüber gibt es keinen direkten Anspruch auf Verantwortung. Was aus natürlicher Notwendigkeit oder reinem Instinkt geschieht, schließt moralische Verantwortung aus. Das menschliche Gute hingegen lebt von der individuellen Initiative. Für den Autor Erich Kästner gibt es überhaupt kein Gutes, «außer man tut es.» Ob es sich bei dem Täter des Guten um Gott oder Mensch handelt, bleibt dabei unwesentlich. Bloßes Denken oder Fühlen ist dieser Ansicht nach noch nicht «gut». Es muss sich etwas in einer konkreten Weise willentlich ereignen, um als Gutes in Erscheinung zu treten.

Des Guten Ursprung

Die Welterschaffung geschieht der Darstellung in der Bibel entsprechend im Ablauf von sieben Tagen. Jeder Tag wird mit den Worten «Und Gott sah, dass es gut war!» abgeschlossen. Gott beurteilt sich selber im Hinblick auf das Ergebnis seiner Tätigkeiten immerzu mit «gut». Nur am Ende der ganzen Schöpfung wird der am sechsten Tage zuletzt geschaffene Mensch und mit ihm das gesamte Werk als «sehr gut» bezeichnet. Als «Männlich-Weiblich» und als Abbild und Gleichnis Gottes wird der Mensch geschaffen. Diese besondere Hervorhebung des Menschen wird sich im weiteren Verlauf der Entwicklung noch von großer Bedeutung erweisen.

Im ersten Buch Moses wird nun in der Folge geschildert, wie Gott am siebenten Tage ruht und die Schöpfung abschließend mit Heiligung und Segen versieht. Nach dieser Erholungsphase beginnt die Schöpfung der heiligen Schrift zufolge noch einmal von vorne, aber sie verläuft nun ganz anders als bisher beschrieben. Nachdem Adam von Gott geschaffen und mit einer Aufgabe und einem besonderen Gebot im Paradies bedacht worden ist, entdeckt Gott den ersten «Fehler» in der Schöpfung. «Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine sei». Es braucht nun eine Gefährtin, die Adam entspricht, um «gut» zu werden. Nachdem dieser Mangel an Gutem mit der Erschaffung einer «Männin» aus dem Leib des Adam behoben ist, tritt jetzt die Prüfung der Verbundenheit ein, mit der Adam und Eva ihrem Schöpfer gegenüber ausgestattet sind. Die Folge einer Übertretung des gebotenen Verzichts auf die Früchte des Baumes, der in der Mitte des Paradieses steht, wird Adam von Gott mahnend angekündigt. «Von allen Früchten dürft ihr essen. Ihr müsst aber sterben, wenn ihr die Frucht vom Baum der Erkenntnis kostet!» , lautet seine Warnung.

Ganz anders als der Schöpfer an Adam tritt die Schlange an Eva heran. Als Frage formuliert sie ihre Botschaft. «Hat Gott euch nicht verboten, von allen Früchten des Paradiesgartens zu essen?“ Diese Versuchung geschieht erst, als Adam nicht mehr alleine im Paradies wandelt. Es brauchte dazu scheinbar zwei Geschlechter. Adam und Eva bilden diese Menschenformen. Eben die zuletzt aus Adam selbst geschaffene «Männin» Eva wird nun in das Gespräch mit der Schlange hineingezogen und verrät ungewollt der Schlange das innere Gesetz des paradiesischen Lebens. «Alles dürfen wir kosten, es ist uns nur verboten, die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen.» Eine Verheißung ist die Antwort der Schlange an Eva. «Gerade wenn ihr ihr das Gebot missachtet, werdet ihr unsterblich sein wie Gott und unterscheiden können das Gute von dem Bösen». Es entsteht der Eindruck, Gott hätte das Verbot aus Eigennutz erlassen, um den Menschen doch nicht ganz ihm gleich werden zu lassen. Die tatsächlichen Folgen des Genusses vom Baum der Erkenntnis sind allgemein bekannt. Adam und Eva werden tatsächlich die Augen geöffnet, sie werden aus dem Paradies vertrieben und müssen ihr Leben hinfort in Mühsal und Plage, aus eigener Kraft bestreiten! Es wird allerdings die Möglichkeit einer zukünftigen Wiederkehr nicht ausgeschlossen. Liegt nun der Schöpfungsgeschichte zufolge des Bösen Ursprung in dem Guten? Kann nicht gerade das Gute erst durch Missbrauch zum Bösen werden? Braucht es nicht zuerst einen guten, wohlschmeckenden Apfel, der dann an einem für ihn ungeeigneten Ort in Fäulnis zerfällt? Böses entsteht dort, wo ein ursprünglich Gutes an einem ihm nicht entsprechenden Ort zu einer ihm nicht entsprechenden Zeit seine Wirkung entfalten muss. Wenn ein Stein dazu verwendet wird, ein Haus zu bauen, wirkt er zum Guten für die Menschen mit. Trifft er im Fallen zufällig auf einen Menschen, kann er eine Verletzung verursachen. Erst wenn er in vollem Bewusstsein von einem Menschen geworfen wird, um Schaden anzurichten, wird er schließlich zum Werkzeug des Bösen.

Sturzgeburt aus den Himmeln

Um dem Ursprung des Bösen in diesem Sinne nachzugehen, kann die Wiedergabe einer Legende aus der koptischen Kirche hilfreich sein. Dieser Erzählung gemäß schuf Gott der Allmächtige über sich und seine Dreifaltigkeit hinaus den gesamten Kosmos aller Wesenheiten und Welten zuerst in der geistigen Welt. Als letztes Werk war nun der Mensch Adam in Erscheinung getreten. Alle vor Adam geschaffenen geistigen Wesenheiten waren ihm von ihrem Rang her überlegen und standen in den Himmeln über ihm. Aber nur seinem zuletzt geschaffenen Menschenwesen prägte der Allmächtige den Anspruch ein, das Ebenbild seiner Selbst – ein Abbild Gottes zu sein. Diesem Anspruch und dieser Würde entsprechend forderte nun der Schöpfergott alle Wesenheiten auf, sich vor dem Menschen zu verneigen und ihm zu dienen. Diese Aufforderung erregte den Widerspruch und die Empörung des höchsten und ersten nach der Gottheit selbst geschaffenen Wesens. Der Überlieferung nach trug dieses Wesen den Namen Sakithaboth. Er widersetzte sich wiederholt der Forderung Gottes, den Menschen die Ehre zu erweisen, weil er sich selbst als schöpfungskräftig und verehrungswürdig ansah. Diesem ersten Widersacher schlossen sich aus allen Hierarchien Wesenheiten im Widerspruch an. Es entstand ein Streit im Himmel. Die himmlische Harmonie war zum ersten Mal durch den entstandenen Widerwillen gestört. Um den Frieden in den Himmeln wieder herzustellen, hielt nun Gott alle von ihm Geschaffenen dazu an, gegen Saklithaboth aufzustehen und ihn mit seinen Anhängern aus dem Himmel zu vertreiben. Auf die Frage, wer im Himmel gegen die Widersacher streiten würde, entstand ein großes Schweigen. Keiner der bei Gott Gebliebenen war so mächtig, um mit seiner Kraft für Gott einzustehen. Endlich machte sich ein himmlisches Wesen mit dem Namen Micha bereit zum Kampf. Er wusste, dass er schwächer als sein Gegner war. Zugleich hoffte er voll Zuversicht auf die Hilfe Gottes. Und also geschah es auch. Ausgerüstet mit dem mächtigsten Schwert Gottes schlug Micha dem höchsten Gegner den leuchtenden Stirnstein aus der Krone. Dieser fiel hinab auf die Erde. Er sollte im Laufe der Geschichte eine ganz besondere Rolle im Heilsgeschehen spielen. Nachdem Micha mit Gottes Hilfe die Widersacher aus dem Himmel hinausgetrieben hatte, wurde ihm der Name Michael verliehen. Dieser Name bedeutet soviel die Frage «Wer ist wie Gott?» Michael hatte diese Frage den Gegnern Gottes gestellt und durch seinen Sieg erwiesen, dass niemand der Kraft Gottes standhalten konnte. In den frei gewordenen Rang des höchsten Wesens nach der Gottheit wurde nun Michael gesetzt. Er tritt seit dieser Zeit als Fürsprecher des Menschen direkt als das Antlitz Christi vor die Gottheit hin. Soweit spricht sich die Legende zum Ursprung des Bösen in der Welt aus.

Führt man die Erzählung sinngemäß weiter, ergibt sich weiterhin das Folgende. Ein dritter Teil der ursprünglich von Gott geschaffenen guten Wesenheiten war nun auf die Erde gefallen. Er wurde an einen Platz versetzt, der ihm nicht entsprach. So entstand das Böse in der Welt. Dort begegnete es dem von Gott geschaffenen Menschen. Da er die eigentliche Ursache des Streites in den Himmeln war, hassten ihn die herabgestützten Geister in ganz besonderer Weise. Mit unbändigem Zorn sahen sie auf den Menschen, der noch immer eingebettet in den Himmel auf Erden im Paradies weilte. Der Widersacher trachtete nun danach, die Menschen zu verführen. Sie sollten sich genau so wie er selbst von den Geboten Gottes abwenden. Seit dem Tag als das durch die bekannte Arglist der Schlange gelungen ist, ist der Mensch der Begegnung mit dem Bösen direkt ausgesetzt. Beide finden sich nun ausgestoßen aus der gottgewollten Herrlichkeit vor dem Tor des Paradieses wieder. So beginnt der Streit nun auf der Erde, den die Menschheit gegen den für ihre irdischen Augen unsichtbar gewordenen Feind direkt zu führen hat. Sie kann das Böse nur in dem Maße überwinden, als sie sich mit den im Himmel gebliebenen guten Kräften des Michael verbindet. Dadurch wird dem Widersacher seine Niederlage in den Reichen der Himmel auch auf der Erde vor Augen geführt. Schritt um Schritt kann sich der Mensch durch die Erkenntnis der ihn umgebenden geistigen Mächte den Weg zurück ins Paradies bahnen. Nachdem Michael den Himmel von dem Widerspruch befreit hatte, brauchte es einen entsprechenden Sieg auch auf der Erde. Der Anfang dazu liegt in der Geburt eines auserwählten Kindes, das bereits prophetisch angekündigt wurde. In ihm wurde der Gesalbte Gottes als Messias herbeigesehnt. Er sollte die Welt von allem Bösen befreien. Der Kampf war hier allerdings nur durch das größte Opfer zu gewinnen. Da es keinen Ort mehr gab, an den die Widersacher abermals vertrieben werden konnten, ging es jetzt um ihre ganze Existenz. Nur die Liebe kann den Hass besiegen, der das Böse treibt. Jesus von Nazareth wurde durch seine Taufe mit dem Christusgeist vereint, um das Böse durch sich selbst in Liebe für die Menschheit zu verwandeln. Er kann seit seinem Tod für alle Menschen das Vorbild sein in der Auseinandersetzung mit dem Bösen.

Geisteskind in Weltenfernen

Wenn wir uns die Frage stellen, wie wir gegenwärtig die rechten Wege in eine gute Zukunft für alle Menschen finden können, herrscht weithin Ratlosigkeit. Wir stehen heutzutage vor der Herausforderung, dass wir zeitgleich mit den großen Errungenschaften unserer Kulturentwicklung auch unsere Lebensgrundlagen vernichten. Ein Ende der Lebenskräfte unserer Mutter Erde ist vorauszusehen. Wir selber haben scheinbar nicht bedacht, wohin unsere Entschlüsse führen würden. Der bisher bildhaft geschilderte Entwicklungsweg des Menschen gilt für jede Zeitepoche in den jeweils neuen Umständen. Prinzipiell geht es immer noch darum, das dem Menschen eingeborene Bildnis Gottes in konkrete Wirklichkeit zu verwandeln. Gerade in der gegenwärtigen globalen Situation wird erkennbar, wie leicht es möglich ist, Menschen dauerhaft in Angst und Schrecken zu versetzen. Dass sich darin Widersacher zeigen, die das menschliche Bewusstsein völlig vereinnahmen wollen, ist ganz offensichtlich. Der angsterfüllte Mensch ist dann ein Zerrbild seines höheren Selbst und handelt nicht mehr frei aus Liebe. Je stärker die bisher gewohnte Welt aus den Fugen gerät, desto weniger kann sich der einzelne Mensch auf äußere Autoritäten verlassen. Die mächtigsten Institutionen beginnen gegenwärtig, sich immer stärker und immer häufiger selbst zu widersprechen. Wer bestimmte Aussagen zurückverfolgt, kann sogar den Eindruck gewinnen, dass Unwahrheit als Wahrheit gelten muss. Sobald institutionelle Gewalt dazu benutzt wird, fehlende Argumente zu ersetzen, gerät die Menschheit in den Widerspruch und in die Spaltung mit sich selbst. Das Gute beschließen kann nun auch bedeuten, den Missbrauch durch das Böse wieder in ein Gutes zu verwandeln. Beschließen ist dann in dem Sinne von «zu Ende bringen» zu verstehen. Rudolf Steiner hat zu Weihnachten 1924 den sogenannten Grundsteinspruch offenbar gemacht. In diesem größten Geschenk an die Menschheit wird der Mensch in seiner dreifaltig gegliederten Göttlichkeit aufgerufen, sich ganz persönlich und unvermittelt direkt dem Christuswesen zuzuwenden. In seinen Leibesgliedern, im Herzen und im Haupt kann der Mensch durch geistgemäßes Erinnern, Besinnen und Erschauen zu seiner ureigensten Wahrhaftigkeit im Leben, Fühlen und Denken gelangen. Die letzte Zeile dieser «Grundsteinmeditation» lautet im Hinblick auf die Bitte an das Christuswesen um Erwärmung unserer Herzen  und Erleuchtung unserer Häupter schließlich «… dass gut werde, was wir aus Herzen gründen, was wir aus Häuptern zielvoll führen wollen!» Dem Menschen kommt es also zu, das von Gott begonnene Gute nach dem Bruch des Gebotes und der Vertreibung aus dem Paradies direkt in der Konfrontation mit den seit dem Sturz auf die Erde böse wirkenden geistigen Wesen wieder in das Gute umzuwandeln. Mit dem Blick auf Weihnachten öffnet sich für uns das Tor zu dem verlorenen Paradies. Nicht zufällig wird an dem Tag, an dem der Heilige Abend gefeiert wird, auch an Adam und Eva gedacht. Ein Wochenspruch Rudolf Steiners bringt den Zauber von Weihnachten mit dem Hinweis auf eine «Himmelsfrucht», die aus Hoffnung im Menschenherzen wächst, in einzigartiger Weise zum Ausdruck. Dieser Hoffnung leben wir zu, indem wir das Gute mitten in uns zu neuem Dasein erschießen.

Ich fühle wie entzaubert

das Geisteskind im Seelenschoß,

Es hat in Herzenshelligkeit

Gezeugt das heil‘ge Weltenwort

Der Hoffnung Himmelsfrucht,

Die jubelnd wächst in Weltenfernen

Aus meines Wesens Gottesgrund.

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