Der Homo sapiens sapiens als Deus ex Machina

Text Günter Schlicker, Wien

So wie im griechischen Theater der Gott oder die Göttin plötzlich vor oder unter den Menschen auftaucht, erscheint der Homo sapiens sapiens auf der Bühne der Evolution. Zwar hat die Forschungsgruppe um Svante Pääbo aus Knochen-DNA von Neandertalern herausgefunden, dass der moderne Mensch sich mit diesem gepaart hat und wir ein paar wenige Prozent von ihm in unserem Genom haben. Jedoch ist seine Abstammung noch immer nicht eindeutig geklärt. Auch gibt es mehrere 100.000 Jahre Abstand zwischen den verschiedenen Vormenschenarten ohne Anschluss oder erkennbaren physischen Zusammenhang derselben. Es sind noch viele Fragen offen, was die Evolutionsreihe betrifft. Der Homo sapiens sapiens geht wie ein Geist als vorausgegriffene Idee durch diese und steht am Ende als die einzige Menschenart da, die nicht nur überlebt hat, sondern sogar nach seinem Willen die Welt kulturell umschuf und auch die Macht hat sie zu zerstören.

Was für eine Wirkmächtigkeit dieses Wesen Mensch besitzt, ist uns gerade heute bewusst, wo er bereits dreimal mehr Masse der Erde bewegt als die natürliche Erosion, Erdbeben Wasser und Winde zusammen. Das zeigt uns, dass er aus einem Geistvermögen heraus geboren ist, wenn er auch in einem Körper steckt. Die geistige Wirkmächtigkeit hat ihm die Möglichkeit gegeben seinen Körper so auszubilden, wie wir ihn kennen. Das Potential, das schon im Ursprung vorhanden war, suchte sich seinen physischen Ausdruck: der aufrecht gehende, freihändige, intelligente und kreative Mensch.

Woher er phylogenetisch stammt, ist nicht klar, so unvermittelt taucht er auf. Seine Verwandtschaftsverhältnisse sind ungeklärt und irgendwie ist er wie ein Kind ohne Familie. Keine will so recht zu ihm passen. Die allermeisten haben so wenig mit ihm zu tun, wie die kleinen Landvorfahren der Säugetiere, die ins Meer gegangen sein sollen, um dort Wale zu werden. Zwar könnte der Neandertaler, laut Forschung im letzten Jahrzehnt, sogar im Anzug mit Krawatte beinahe unerkannt als Homo sapiens sapiens, in einem der modernen Hochhäuser in den Lift zu anderen Menschen steigend als Manager durchgehen. Der moderne Mensch hat aber eine ganz eigene und ihm fremde Entstehungslinie, die nicht wirklich geklärt ist, bzw. gibt es so viele Forschungsergebnisse einer Abstammungslinie, dass nicht klar ist, was stimmt. Es gibt erhebliche Zweifel, wie der moderne Mensch mit den sogenannten Frühmenschen und noch weiteren angenommenen Vorfahren zusammenhängt.

Aber er kann ja nicht vom Himmel gefallen sein! Bildlich gesprochen, aufgrund seines geistigen Potentials und seiner Fähigkeiten, ist er das vielleicht, aber nicht in Bezug auf seine Physis. Die ersten Knochenfunde sind erst ca. 35-37.000 Jahren ihm zuzuordnen.  Interessanterweise trifft sich das mit dem Entstehen der so genannten Eiszeitkunst und Höhlenmalerei. Wie konnte der Homo sapiens sapiens vorher so lange ohne Spuren zu hinterlassen leben? Er muss ja schon da gewesen sein. Alle anderen Menschenvorfahren sind einander ähnlicher, als dieser letzte, der alle verdrängt zu haben scheint. War er von Anfang an als „Sieger“ gekürt? Er ist der Schlussstein der menschlichen Evolution und alle anderen waren Laienschauspieler und Statisten, die das volle Potential aufgrund der unvollkommenen Physis noch nicht ausspielen konnten? Wurden sie deswegen von der Natur abgesetzt vom Spielplan? Der Bühnendarsteller, der seinen Körper noch nicht voll mit seinem kreativen Geist durchdrungen hat, dass jede Geste, jede Mimik, jede Körperhaltung ein Ausdruck seines Inneren ist, kann es bis zum Schluss gegen den Profi nicht schaffen. Der Star in ihm war potentiell, geistig immer schon vorhanden, aber er hatte seinen Körper noch nicht voll in Beherrschung. Das heißt, er hat ihn noch nicht entsprechend aufbauen können. Das tat er in aller Stille. Er wartete, bis er bühnenreif war. Die anderen sind zu früh auf die Bühne gestiegen und blieben als Vormenschen und teilweise als Frühmenschen dem Affen näher als dem Menschen.

In der Evolutionsforschung sucht man zurückgehend nach den Ursprüngen, den Vorfahren der Tierarten: jenen der Säugetiere, jenen der Landtiere, jenen der Wassertiere bzw. Fische (Chordatiere; mit anfänglicher Wirbelsäule). Und man nimmt an, dass, von diesen aus eine Verästelung stattgefunden hat, und man kann von jedem einzelnen Ast eine Linie zurückverfolgen, die zum Ausgangstier führt. Das erwies sich aber als ein Trugschluss. Es gab bestimmte Punkte in der Evolution, wo, wie aus einer einzigen Wurzel, viele Zweige von Tierarten entstanden (siehe Grafik). Man spricht nicht mehr von Stammbäumen, sondern von Stammbüschen. An diesen Punkten gab es vielleicht Lebensformen, die alle nachfolgenden ermöglichten. Diese müssen also im Potential so gewaltig und flexibel gewesen sein, um alle anderen aus sich hervorzubringen. Allein sich dieses vorzustellen, grenzt schon an ein Wunder, das aber geschehen ist, wenn auch nicht vor unseren Augen. Die Physis dieser „Urtiere“ und derer inneren Fähigkeiten umschlossen im Keim all jene Möglichkeiten, die aus ihnen hervorgingen. Das scheint, erstmals gedanklich nachvollzogen, eine unglaubliche Idee. Noch phantastischer muss einen aber anmuten, dass alle Tierwelt sich bloß durch Trial und Error, chemisch-physikalisch vom Einzeller zu allen heute bekannten Tieren und dem Menschen entwickelt haben mag, ohne ein inneres Entwicklungspotential anzunehmen. Evolution ist unzweifelhaft geschehen. Aber das Wie ist noch immer fraglich.

Beim Menschen spricht man mittlerweile in Bezug auf die Veränderungen im evolutiven Körperbau von Mosaikformen. Es gibt keine eindeutigen Hinweise auf eine lineare Entwicklung im Vergleichen der Vormenschenarten oder Menschenarten. Bei den einen sind es die Gliedmaßen, die in die Richtung des modernen Menschen gehen, bei der anderen die Zähne, bei der nächsten die Schädelform usw. Wobei in den nachfolgenden Arten scheinbar schon erworbenen Merkmale, die in Richtung des homo sapiens gingen, wieder so nicht auftauchen. Es gibt also in Wirklichkeit keine konkreten Hinweise auf eine gerade nachzuvollziehende Linie. Die Linie der physisch menschlichen Evolution ist eine gedachte Ideallinie, eine Theorie, die sich nur durch das Endprodukt, das wir selbst sind, beweist, aber anhand der Funde so nicht sichtbar wurde. Wie also könnte das Wie gewesen sein?

Quallen bestehen aus ca. 99 % Wasser. Wenn sie nicht verschüttet gehen und sich vielleicht versteinert als Abdrücke erhalten, löst sich ihr Körper völlig auf und man wüsste nichts von ihrer Existenz, lebten sie nicht noch heute. Vor sehr langen vergangenen Zeiten gab es viel mehr Lebewesen (wie Weichtiere), die ebenso kein Knochengerüst ausbildeten. Sicher gab es eine Phase der Erdevolution, in der es keine kalkigen Einlagerungen in den Knochen gab, wie es noch immer Tiere mit Knorpeln gibt. Wenn diese Tiere sterben, verfault alles an ihnen und wird der Erde wieder einverleibt. Vielleicht waren gerade diese Urwesen durch diese „Weichheit“ so bildsam geblieben, dass sie die anderen durch Umbildung hervorbringen konnten.

Wenn wir nun dem Menschen dieses mächtige geistige Potential, das in unseren Zeiten ganz- bis zur mehrfach möglichen Zerstörung (Atombomben) der Erde, des globalen Klimawandels und auch in den positiven Errungenschaften- sichtbar wurde, als eine Kraft, die im modernen Menschen schon immer vorhanden war, annehmen, dann kann dieses Potential ebenso seinen Körper aufgebaut haben. Er war vielleicht zwar schon sehr lange Zeit als Lebewesen vorhanden, feilte aber noch an sich, bis er vollendet war. Möglicherweise war er genauso bildsam und knorpelig, wie die Urtierarten, weil er nur so den „Urmenschen“ hervorbringen konnte. Alle Vormenschenarten bis zum Neandertaler (Homoarten) herauf konnten das innere Potential nicht so nutzen oder erfüllen, weil sie sich zu früh verkörpert und sich mit dem Aufnehmen des Kalkes in die Verhärtung begeben hatten. Sie waren nicht mehr zum Umbilden fähig genug. Das Gehirn konnte seine Ausdehnung nicht finden, der aufrechte Gang, der dem intelligenten Wesen entsprach, um es handlungsfähig mit zwei freien Händen zu machen, fand erst sehr spät statt. Die Sprache, die nur dem Sinn gerichteten, sozial zusammenarbeitenden, aufrechten Wesen entstammen kann, und so dem Kehlkopf entspringt, kam erst am Ende zur Geltung. Und so vermochte das Wesen Mensch nur im Endstadium seine ihm entsprechende Physis zu erreichen.

Wenn kein Kalk in den Knochen eingelagert ist, findet man nur dann etwas, wenn der Körper irgendwie konserviert wurde, teilweise zum Fossil geworden ist. Das kommt aber sehr selten vor. So findet man vielleicht keine Knochen von dem vernunftbegabten Menschen, der sein Potential erst langsam und allmählich in den Körper verbauen konnte. Jeder Mensch entsteht auch heute noch aus dem Flüssigen, der Eizelle und verhärtet erst allmählich mit dem Erwachsenwerden. Das zeichnet den langen evolutiven Prozess nach. Bildsamkeit ist das oberste Gebot, solange ein Lebewesen noch wachsen und sich formen muss. Das wäre das Wahrbild dessen, dass alles Leben aus dem Wasser stammt. Damit ist der Deus ex Machina entzaubert und dennoch ein Wunder.

 

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