Erdenstern

Text: Wolfgang Schaffer

Ein bedeutendes Merkmal von fester irdischer Substanz ist die vorwiegende Undurchlässigkeit für Licht. Die Erde, auf der wir uns bewegen, ist so dicht und fest, dass das Licht der Sonne untergeht, sobald die Sonne am Ende eines Tages unter dem Horizont verschwindet. Wäre die Erde durchsichtig, so könnten wir die Sonne auch wahrnehmen, wenn sich der Erdenkörper beim Sonnenuntergang vor die Sonne dreht. Das Sonnenlicht wird durch die gegenwärtigen Verhältnisse von der erhellten Erdoberfläche zum größten Teil in den Weltraum zurückgeworfen. Dadurch entsteht ein lichtloser Raum an der Rückseite des beleuchteten Gegenstandes. Er wirft so seinen Schatten in den sonst lichterfüllten Umkreis der Lichtquelle. Wäre die Erde fest, gleichzeitig aber auch lichtdurchlässig wie z.B. ein Bergkristall, so könnten wir nicht in die Finsternis ihres Schattens tauchen, wenn die Nacht beginnt. Die Sonne würde dann zwar an der Horizontlinie untergehen; sie würde uns aber im Laufe der Nacht von immer tiefer unter unseren Füßen herauf bescheinen. Dazu könnten wir nachtsüber wie gewohnt den finsteren Weltraum mit allen seinen funkelnden Sternen oben über unseren Köpfen sehen. Wo wir jetzt aber mit unseren Füßen auf dem Boden stehen, würde uns eine tagehelle Sonne auf einem blauen Himmel als Hintergrund entgegenleuchten. Wir wären uns auf diese Weise der Verbundenheit mit dem ganzen Weltall zu jeder Zeit bewusst. Nun ist aber einmal die Erde schwer, fest und finster. Sie ist ein scheinbar abgesonderter und auf sich gestellter Ort im Universum. Es gibt auf ihr zwar Leben, aber dieses Leben muss sich laufend an eine Umgebung anpassen, die sich selbst immerzu verändert. Der allgemein bekannten Auffassung nach hat sich unser Erdenkörper über sehr große Zeiträume hinweg von einem glühend heißen Urzustand her immer mehr abgekühlt und dabei dunkle Festigkeit angenommen. Das betrifft aber nur die Oberfläche der Erdkugel. Ab einer gewissen Tiefe bis zum Erdmittelpunkt hin herrscht noch immer der glühend heiße, flüssige Urzustand vor. Die abgekühlte Festigkeit der Erde in ihrer Oberflächenkruste umfasst knapp siebentausend bestimmbare Mineralien als Bestandteile. Interessanterweise wird das Wasser im gefrorenen Zustand auch zu den Mineralien der festen Erde gezählt. Nimmt man die beiden Polkappen der Erde mit ihren kilometerdicken Eismassen zusammen ergibt sich ein recht großer Anteil von gefrorenem Wasser an der festen Erdmasse. Ein sehr kleiner Teil der Mineralien betrifft die Metalle. Sie sind zumeist in Verbindungen mit anderen Gesteinen zu finden und müssen erst durch Schmelzvorgänge bis zu einer gewissen Reinheit verdichtet werden. In reinem Zustand erhalten die Metalle eine temperaturabhängige Formbarkeit. Durch handwerkliches Geschick werden sie dann zu Gegenständen verarbeitet, die eine große Bedeutung für die Entwicklung der menschlichen Zivilisation erlangen können. Waffen sind dazu ein Beispiel oder Schienen aus Stahl. Ein noch viel kleinerer Anteil der festen Erdmasse wird unter extremen Temperatur- und Druckverhältnissen zu Edelsteinen umgewandelt. Unter den vielen besonderen Merkmalen, die sie im Unterschied zu gewöhnlichen Steinen besitzen, gehört ihre Farbigkeit, die Härte und die Durchlässigkeit für Licht. Edelsteine sind durch diese Eigenschaften dem Licht gegenüber aufgeschlossen. Sie bilden durch ihre jeweiligen Kristallgefüge Flächen, Kanten und Ecken aus, an denen sich Licht spiegeln oder brechen kann. Diese Begegnung von Licht mit den zu Kristall gewordenen Erdenstoffen verleiht der festen Erdenwelt einen farbigen Glanz und eine neue Perspektive. An dieser Berührungsfläche von Sonnenlicht, das aus dem Weltall stammt, und erdgebundner Festigkeit beginnt eine neue Schöpfung aufzuleuchten. Der Mensch empfindet Schönheit an den farbenfunkelnden Edelsteinen. Sie offenbaren ihm gesetzmäßig gebildete Formen mit Flächen, Kanten und Spitzen. An ihnen leuchtet die Möglichkeit auf, Gedanken zu erfassen, die aus einer überirdischen, geistigen Welt stammen. Regelmäßig geformte Körper regen den Geist des Betrachters dazu an, über die Gesetze der Natur nachzudenken. Daraus entwickelt sich im denkenden Menschen das zeitlos gültige grenzenlose Reich der Zahlen und der Geometrie. Die Naturwissenschaft orientiert sich an der Logik dieser auf den Geist gegründeten Welt. An der Nachbildung äußerer Naturphänomene entsteht die Frage nach der bildenden Kunst. In der Selbstreflexion der denkenden Seele spricht sich die Philosophie aus. Dazu kommt noch ein wesentliches Element. Die Mineralien und Edelsteine haben im Gegensatz zu allen anderen belebten Wesenheiten auf der Erde eine Beständigkeit, die alle menschlichen Maßstäbe überdauert. Der Gedanke an die Ewigkeit kann sich an ihnen auch im Materiellen entzünden. Die edelsteinbestückten Kronen von Königen und Kaisern geben davon Zeugnis, dass man sich als Herrscher an der Schönheit, der Härte und den Bildekräften der kostbarsten Schätze aus dem Reich der ewigen Natur orientiert hat.

 

Sonne um Mitternacht

Es gab laut den Darstellungen der Anthroposophie in frühen Zeiten der Menschheitsentwicklung einmal einen Zustand, in dem ein Geistesschüler die Fähigkeit erlangen konnte, die Sonne auch dann noch wahrzunehmen, wenn sie während der Nacht für das sinnliche Auge nicht mehr sichtbar war. Die heute noch auffindbaren Steinkreise und Dolmen in den Gegenden Nordeuropas zeugen dieser Auffasung entsprechend von Heiligtümern, die – durch massive Felsensteine vor dem äußeren Licht geschützt – zur Erlangung solcher Fähigkeiten eingerichtet wurden. Die betreffenden Menschen konnten dadurch ein Sensorium für die unsichtbaren Kräfte entwickeln, die mit dem Sonnensein verbunden waren. Im Verlauf einer Nacht schiebt sich ja die Erde selbst zwischen die Menschen, die auf dem beschatteten Teil der Erde die Finsternis der Nacht durchleben und die von der Sonne taghell beschienene Oberfläche auf der gegenüberliegenden Hälfte der Erdkugel. In der Zeit der größten Sonnenferne – um die Mitternachtstunde – waren die damals Eingeweihten in der Lage, bei wachem Bewusstsein die Sonnenkräfte in sich aufzunehmen, die den übrigen Menschen tief unbewusst im Schlaf zuströmten. Man nannte diese Fähigkeit das «Schauen der Sonne um Mitternacht.»

Normalerweise nützen die Menschen die Stunden der Nacht, um sich von den Anstrengungen des Tageslebens zu erholen. Wir ziehen uns aus der Welt zurück in die Wohnung oder in das eigene Haus, versperren die Tür und begeben uns zur Ruhe. Wenn wir dann in den Schlaf versinken, verlieren wir das Bewusstsein unserer Selbst/unseres Selbstes und aller Vorgänge, die unseren Körper während des Schlafzustandes betreffen. Eine Ausnahme dieser tiefen Bewusstlosigkeit stellen Träume dar, die in bildhafter Form leibliche oder geistige Aspekte unseres Lebens widerspiegeln. Nach einer gut geruhten Nacht erwachen wir am nächsten Morgen mit neuen Kräften und frischem Antrieb für den kommenden Tag. Der Anthroposophie entsprechend erholt sich die menschliche Seele von den Anstrengungen des Tageslebens im Schlafzustand, indem sie sich von dem Körper weitestgehend löst. Dieser Körper bleibt durch Atem und Herzschlag weiterhin belebt im Schlafe liegen. Die Seele und das Ich des Menschen ziehen sich aus den Körperhüllen heraus und dehnen sich ihrer eigentlichen Natur entsprechend in die Seelenwelt und in das Geisterland aus. Dabei entschwindet das gewöhnliche Selbstbewusstsein. Der Aufenthalt in der geistigen Welt versorgt die Seele und den Geist des schlafenden Menschen mit neuer Kraft. Auf dem zeitgemäßen Weg zur Erlangung erweiterter Erkenntnisfähigkeiten gibt es die Möglichkeit, diesen leibbefreiten Zustand auch ohne den Verlust des Selbstbewusstseins zu erleben. Das gewöhnliche Bewusstsein ist an den Zustand gebunden, bei dem wir uns in unserem Körper befinden. Dabei ist unser Denken, Fühlen und Wollen zumeist ganz hingegeben an die irdische Welt, die uns umgibt. Der Körper, der uns diese Tätigkeiten möglich macht, ist seinerseits aus mineralischer Substanz gebildet. Wie der Erdenplanet selbst undurchdringlich ist für das Licht der Sonne, so kann sich das Licht der geistigen Welt in der Verbindung der Seele mit dem irdischen Leib des Menschen in ihm nicht direkt offenbaren. Im Evangelium des Johannes heiß es dazu am Beginn «Das Licht scheint in die Finsternis und die Finsternis hat es nicht erkannt.» Die Seele muss sich regelmäßig von dem physischen Leib im Schlaf befreien, um sich immer wieder mit dem kraftspendenden geistigen Licht zu durchdringen. Der Übergang zwischen Wachen und Schlafen vollzieht sich auf einer gewissen Stufe des geistigen Schulungsweges als ein Geschehen, bei dem das volle Bewusstsein nicht verlorengeht. Es handelt sich dann einfach um einen Wechsel von den Wahrnehmungen der irdischen Welt zu den Eindrücken der geistigen Welt. Diese Form ununterbrochener geistiger Wachheit wird in der Anthroposophie die «Erlangung des kontinuierlichen Bewusstseins» genannt.

 

Die künftige Stadt

Mit dem Beginn des Christentums hat sich die gesamte Situation der Menschheit von Grund auf verändert. Der mineralischen Substanz des Erdenplaneten wurden der Leib und das Blut eines Gotteswesens hinzugefügt, das durch die Taufe des Jesus von Nazareth in den Erbstrom der Menschheit eingetreten war. Dadurch sind der Erde neue Ursprungskräfte einverleibt, die die feste Materie von innen her völlig verwandeln werden. Sie wird sich dadurch wieder mit dem Schöpfungslicht vereinen, aus dem sie einst entstanden ist. Durch die Auferstehung des Christus Jesus wurde darüber hinaus die Form des physischen Menschenleibes von der Notwendigkeit der Aufnahme von mineralischer Substanz befreit. Dieser erste Auferstehungsleib hat wieder seine ursprüngliche Unsterblichkeit erlangt, da er sich mit seinen Lebensvorgängen nicht mehr auf mineralische Stoffwechselprozesse stützen muss. Ganz ausführlich wird in dem letzten Buch des neuen Testaments die Vision von der Zukunft der Menschheit und der Erde im Sinne des Christentums beschrieben. Es ist in dieser Offenbarung der Apokalypse des Apostels Johannes die Rede von einer neuen Erde und einem neuen Himmel, in denen die Gerechtigkeit wohnt. Alles Alte ist vergangen. Die neue Welt ist nicht wieder der paradiesische Garten Eden, in dem die Menschen am Beginn der Schöpfung wohnen durften. Die zukünftige Welt ist eine Stadt. Alles an dieser Stadt ist ganz anders gestaltet, als wir es uns in der heutigen Welt vorstellen können. Die Stadt ist in jede Himmelsrichtung hin gleich weit ausgedehnt. Sie hat die Form eines Würfels und eine Mauer als Umgrenzung. Die zwölf Grundsteine dieser Stadtmauer sind mit Edelsteinen ausgeschmückt. Die Stadttore bestehen aus jeweils einer Perle und bleiben stets geöffnet. Mitten in der Stadt befindet sich die Quelle allen Lichtes, das die ganze Stadt erhellt. Es ist das Licht der Unsterblichkeit, das die Auferstehungskraft des Mysteriums von Golgatha ausstrahlt. Ein erstes Aufleuchten dieses Lichtes wird schon bei dem Geburtsgeschehen des Erlösers mitten in einer kalten Winternacht beschrieben. Wir feiern Weihnachten alljährlich als ein Fest der Erinnerung an den Beginn der Durchlichtung der Erdenfinsternis. Diese heilige Nacht ist unmittelbar an die Zeit der Wintersonnenwende geknüpft. Es handelt sich dabei um die Zeit der tiefsten und längsten Sonnenferne im ganzen Jahreskreislauf. Durch den Lebens- und Leidensweg der Christuswesenheit ist das «Schauen der Sonne um Mitternacht» für alle Menschen im kosmischen Zusammenhang eine reale Möglichkeit geworden. Durch jede Finsternis und Todesnacht hindurch wird sich das Wirken der geistigen Sonnenkraft in den Menschenseelen immer klarer offenbaren. Die Menschheit beginnt auch in unserer Zeit erst anfänglich zu erleben, was es heißt, das Christuskind in sich zu finden. Dazu braucht es den Mut und die Bereitschaft, der Stimme des eigenen Gewissens mehr Wirklichkeit zu verleihen als den Normen und Zwängen, die von außen wirksam sind. Diese Stimme des Gewissens spricht ganz leise und immer individuell von dem Menschheitsziel in uns. Jeder Mensch, der beginnt den Christus auf diese Weise in sich als das neue «Licht der Welt» zu schauen, steht schon mitten in der Neuen Stadt, die aus sich selbst leuchtet. Rudolf Steiner hat dazu sein erstes Wahrspruchwort geprägt:

 

«Die Sonne schaue

um mitternächtige Stunde.

Mit Steinen baue

im leblosen Grunde.

 

So finde im Niedergang

und in des Todes Nacht

der Schöpfung neuen Anfang,

des Morgens junge Macht.

 

Die Höhen lass offenbaren

der Götter ewiges Wort,

die Tiefen sollen bewahren

den friedensvollen Hort.

 

Im Dunkel lebend

erschaffe eine Sonne.

Im Stoffe webend

erkenne Geistes Wonne.»

 

Rudolf Steiner

Wintersonnenwende

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