Menschheitsentwicklung

Text: Wolfgang Schaffer.

Der Fortschritt der Menschheit verwirklicht sich in einzelnen Taten einzelner Menschen.
Die Übernahme voller Selbstverantwortung im Denken, Fühlen und Wollen ist das Licht
von Wegbereitern, die sich als «Sterne» in Freiheit und Einsicht aus Liebe an die Gemeinschaft
verschenken.

Sobald der Ausdruck «Menschheit» verwendet wird, weitet sich der Blick vom Einzelnen auf alle Menschen. Die Gesamtheit aller Einzelmenschen ist aber wiederum nur Teil des Lebensraumes, der den Planeten Erde ausmacht. Die schmale «Bandbreite», in der es menschliches Leben gibt, umfasst im Wesentlichen die feste Oberfläche des Himmelskörpers Erde, der sich um die eigene Achse dreht und dabei in einem gewissen Abstand den Stern mit der Bezeichnung «Sonne» umkreist.

Entwicklung vollzieht sich unter den Bedingungen, die dem Menschen entsprechend hier auf der Erde möglich sind. Die Dauer und das durch die standortbedingten Wahrnehmungen begrenzte Bewusstsein eines einzelnen Menschenlebens reichen nicht aus, um die Entwicklung der Menschheit als Ganzes zu erfassen. Trotzdem hat jedes, auch noch so unscheinbar gelebte Leben Anteil am gesamten Schicksal und Geschehen im Weltverlauf.

Die Entwicklung jedes einzelnen Menschen vom Augenblick der Zeugung bis zu seinem Tode ist trotz aller Einzigartigkeit der jeweiligen Biographie doch von ganz allgemeinen Gesetzen getragen. Es spiegelt sich darin auch die Entwicklung der ganzen Menschheit. Das von Ernst Haeckel formulierte biogenetische Grundgesetz besagt, dass sich die gesamte Stammesgeschichte im Individuum gleichnishaft wiederholt. Dabei werden gewaltig große Zeiträume auf wenige Monate «zusammengezogen». Entwicklungsstufen, die in den Arten der Tierwelt vom Einzeller bis hin zu den höchstentwickelten Säugetieren nebeneinander in ihrer Gesamtheit als «die Natur» gelten, werden rein organisch während einer menschlichen Schwangerschaft ansatzweise wie im Zeitraffer nacheinander durchlaufen.

Ahnendes Staunen

Es gibt drei wesentliche Merkmale, die den Menschen aus der Natur herausheben und ihn zum «eigentlichen Menschen» machen: Gehen, Sprechen und Denken. Auf diesen körperlich bedingten Fähigkeiten beruht wiederum das Seelenleben in den Formen des selbstbewussten Denkens, Fühlens und Wollens.

Der Impuls zum aufrechten Gang bringt einen gewaltigen Einschlag in die Menschheitsentwicklung. Die Hände und Arme werden unter Beherrschung des körperlichen Gleichgewichts zur gezielten, spontanen Handlung befreit. Das menschliche Haupt erhält dadurch als Träger der wichtigsten Sinnesorgane nach allen Raumesrichtungen freie Beweglichkeit.

Mit dem Blick nach oben, hin zum Sternenhimmel, eröffnet sich dem Menschen auch im Seeleninneren ein unergründliches Gefühl des ahnenden Staunens. Unendlichkeit wird sinnlich sichtbar – doch ist der Kosmos außerhalb der Erde unerreichbar und scheinbar menschenleer! Wendet sich der Blick der Erde zu, so zeigt sich das Leben in den Pflanzen, Tieren und Menschen unserer Umgebung in ständiger Veränderung. Geburt und Tod bilden hier die Grenzen, zwischen denen sich im Verlauf der Zeit die Erscheinungsformen der belebten Natur in unendlicher Mannigfaltigkeit entwickeln und verwandeln.

Diese Überfülle von Lebensvorgängen steht als sinnlich wahrnehmbares Rätsel vor dem menschlichen Bewusstsein. Sie verlangt nach Unterscheidung und Benennung. Das Vermögen, die uns umgebende Welt beim Namen zu nennen, ist ganz offensichtlich an die Ausbildung der menschlichen Sprache gebunden. Die bereits im Stoffwechsel verbrauchte Ausatemluft wird durch den Prozess der Lautbildung ganz unverhofft zum Träger von Sinn.

Die menschliche Sprache beruht zunächst auf dem Zusammenspiel von Vokalen und Konsonanten. Seelenstimmungen einerseits und die klangliche Nachbildung äußerer Naturerscheinungen andererseits verschmelzen zum bezeichnenden Wort. Das Denken als rein inneres Tun schafft dem Menschen endlich den Spielraum, in dem sich Ideen und das Zukünftige, noch nicht Geschehene, aber prinzipiell Mögliche in Form von Wünschen, Hoffnungen und Zielen offenbaren.

Den «krönenden Sieg» über alles bisher Gewordene erringt sich der Mensch schließlich völlig friedlich in dem Augenblick, wo er sich erstmalig als «eigenes Selbst» erkennt. Mit der Geburt des Selbstbewusstseins in der Erkenntnis: «Ich bin der ich jetzt bin!» beginnt das eigentliche Walten des Schicksals und auch die Einsicht in alle daraus folgenden Tatsachen.

«Ab jetzt ist Selbstverantwortung gefragt – bisher habe ich ja alles geschenkt bekommen!» Den physischen Leib haben mir meine Eltern durch die Zeugung aus dem Strom der Vererbung herausgebildet, die Stoffe zur Aufrechterhaltung des körperlichen Daseins verdanke ich dem Erdenplaneten in Form der Elemente Erde, Wasser, Luft und Wärme. Durch Pflanzen und Tiere strömt mir nährende Lebenskraft zu, die mir eine liebende Menschengemeinschaft als Speise und Trank zur Verfügung stellt. Als Mitglied meiner Familie werden mir durch Eltern, Geschwister, Freunde und Bekannte die menschliche Sprache und Erfahrungen aus allen Bereichen des menschlichen Lebens anvertraut. Durch Erziehung und Bildung wirken schließlich die Lehrer und Helfer mit ihren besten Kräften im Sinne der gesamten Gesellschaft und Zivilisation auf mich anregend ein.

Sternenlicht der Anthroposophie

Mit dem Blick von der Erde in die Weiten des Weltalls ergibt sich eine Perspektive für unser Bewusstsein, die über die Vergänglichkeit der irdischen Verhältnisse hinausweist. Große Erwartungen liegen aktuell der Suche nach Spuren außerirdischen Lebens irgendwo «draußen im Kosmos» zugrunde. Aus solchen Funden hofft man das Rätsel menschlichen Lebens und mit ihm die Zukunft der Menschheitsentwicklung zu entschlüsseln.

Im Hinblick auf die ruhenden Fixsternkonstellationen der Tierkreisbilder ergibt sich die Frage: «Wer bin ich selbst in Wirklichkeit – was habe ich mit diesem Einblick in das womöglich ewig unendliche Weltall gemeinsam?“ Lautet die Antwort: «Nicht mehr als es dem puren Zufall entspricht!», so tut sich im Inneren der Seele ein Abgrund des sinnlosen Zweifels an dem Wert der eigenen Existenz auf. Um mutig über diesen Abgrund hinwegzukommen bedarf es nur der ruhigen Gewissheit: «Der Wert meiner Existenz ist einzig und allein in meinem Selbst begründet.»

Im Anblick der Sterne liegt ein Maßstab zur Beurteilung von Entwicklungsvorgängen, die sich über das Fassungsvermögen des einzelnen Menschenlebens hinaus erstrecken. In dem Licht, das die Sterne zu uns auf die Erde senden, hofft man Hinweise zu finden, die uns etwas über erdenähnliche Lebensräume im Weltall verraten könnten. Wir wären so eventuell in der Lage, frühere oder auch zukünftige Entwicklungsepochen menschlicher Zivilisation wie «von außen» zu studieren. Daraus könnte man gewisse Entscheidungshilfen bei der «Qual der Wahl» der eigenen Entwicklungsschritte gewinnen. Da es bisher keine echten Beweise solcher außerirdischer Zivilisationen gibt – obwohl sich der Blick in den Weltraum durch die moderne Technik beständig erweitert – bleiben die Sterne in der geschilderten Weise als Orientierungspunkte einer zukünftigen Menschheitsentwicklung wirkungslos.

Der schmale Pfad vom Ich zum All

Doch gibt es einen vergleichbar schmalen gedanklichen Pfad, der eine fruchtbare Deutung des Ausdrucks «Sternenschrift» im Sinne einer Botschaft, die wir dem Anblick der Sterne entnehmen können, zulässt.

Dieser Erkenntnispfad geht davon aus, dass es einen beschreibbaren Übergang gibt von ganz speziellen Bewusstseinsstufen, die wir im Bereich unseres Seeleninneren erlangen können, zu den Wahrnehmungsinhalten des äußeren Kosmos.

Imagination, Inspiration und Intuition werden diese Erkenntnisstufen im Begriffszusammenhang der Anthroposophie genannt. Der Seeleninhalt geht – vereinfacht gesprochen – durch beständig erweiterte Selbsterkenntnis in den leeren, inhaltlosen Weltraum über, den die Sterne mit ihrem Licht durchstrahlen, ohne dabei etwas sichtbar zur Erscheinung zu bringen. Das Lesen der Sternenschrift besteht dann nicht wie derzeit in der Analyse materieller Komponenten außerirdischer Objekte, sondern in der Deutung des bildhaften Ausdrucks von Sternenkonstellationen. Beim Vergleich mit dem Vorgang des Lesens eines Buches in einer bisher unbekannten Schrift kommt es ja auch nicht auf die chemische Zusammensetzung der verwendeten Druckmaterialien oder die genaue Vermessung von Länge, Breite und Dicke einer Buchseite an. Verstehen können wir den Inhalt einer Schrift nur durch die Deutung der Schriftzeichen aus ihrem inneren Zusammenhang heraus. Das setzt aber eine Erweiterung des eigenen Bewusstseins voraus.

Nach einem Jahrhundert seit der Begründung der Anthroposophie und der aus ihr entwickelten Impulse in Pädagogik, Landwirtschaft und Medizin – um nur einige zu nennen – ist es klar ersichtlich, dass die den entsprechenden Taten Rudolf Steiners zugrundeliegenden Einsichten nicht aus den damaligen Verhältnissen in Raum und Zeit erklärt werden können.

Diese Initiativen sind zwar auch aus der Not der Zeit geboren, die darin wirkenden Motive stammen jedoch aus den Bereichen eines intuitiven Denkens, das kosmischen Charakter in die Erdenverhältnisse tragen kann.

Rudolf Steiner hat gleichsam den «Himmel auf Erden» wieder zum Leuchten gebracht. So kann man überall auf der Erde, wo aus dem Gedankengut der Anthroposophie heraus Menschen die Begegnung mit der Welt gestalten, den Glanz des Sternenhimmels gewahren, dessen Strahlen seinen Ursprung im bewussten Erleben der geistigen Welt hat.

Darin besteht der gegenwärtige, wesentlichste Fortschritt in der Menschheitsentwicklung: Das «Ich» beginnt «Sich» denkend als geistige Wesenheit zu begreifen. Der Abstieg jedes Einzelmenschen in die Gottesferne einer rein materiell erlebten Außenwelt verwandelt sich damit in das gemeinsame «Heimwärtswandern» der am Schicksal ausgereiften Erdenbürger in die Welt ihres geistigen Ursprungs.

«Es leuchten gleich Sternen am Himmel des ewigen Seins die gottgesandten Geister. Gelingen mög‘ es allen Menschenseelen im Reich des Erdenwerdens zu schauen ihrer Flammen Licht.»  (Rudolf Steiner)

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