Text: Jan Albert Rispens, Kärnten
Schon seit über 100 Jahren stehen – auf Initiative Ita Wegmans und mit Entwicklungshilfe Rudolf Steiners – Mistelpräparate innerhalb der anthroposophischen Medizin Arzt und Patienten in der Auseinandersetzung mit der Zeitkrankheit Krebs zur Verfügung. Was macht gerade die Mistel zum Krebsheilmittel?
Die Antwort auf diese Frage liegt sowohl verborgen in der bemerkenswerten Botanik dieser Pflanze als auch in ihrem ungewöhnlichen Standort. Misteln wachsen obligatorisch auf Bäumen, und bilden mit Ihnen zusammen eine höhere Lebensform. Doch ist auch dem botanischen Laien unmittelbar klar: Die Kugelbüsche in den Baumkronen müssen sehr wohl als „Fremdorgane“ des Baumes gesehen werden?
Die Mistel hat in ihrem Wachstum kein Oben oder Unten, steht also für eine Pflanze ganz „eigenwillig“ in dem von Sonne und Erde aufgespannten Raum! Eine ganze Reihe weiterer Eigenheiten machen sie zu einer Ausnahmeerscheinung unter den Blütenpflanzen. Die Mistel blüht und fruchtet in den Wintermonaten und emanzipiert sich dabei vom gewöhnlichen pflanzlichen Jahreslauf. Dazu kommt ihre botanisch gesehen äußerst reduzierte Gestalt; die primitiven Laubblätter stehen lebenslang auf der Stufe von Keimblättern, ihre Blüten und Früchte sind provisorisch umgewandelte Stängelteile. Die Mistel bildet keine Samen; ihre Embryonen liegen frei im lichtdurchlässigen Beerengewebe. Kurz, die „zu jung gebliebene“ Mistel erscheint wie ein Aggregat von aufeinander gewachsenen und probeweise zur Blüte und Frucht geratenen Keimlingen.
Wir haben es mit einem Wesen zu tun, das eigentlich gar nicht auf der modernen Entwicklungsstufe einer Blütenpflanze stehen kann und sich gewissermaßen aus weiter Vergangenheit in die Jetztzeit „herübergeschmuggelt“ hat. So schildert sie Rudolf Steiner, der die Mistel als „Tierpflanze“ des „alten Mondes“ charakterisiert und ihr einen eigenen Empfindungsleib zuschreibt. Anders als beim Tier hat sie aber kein eigenes Seelenleben und ist außerdem fest mit ihrer Baumunterlage verbunden.
Wir sind daher dazu veranlasst, auch den Baum mit neuen Augen sehen zu lernen!
Dabei ist es nicht schwer, das Baumgerüst aus Holz und Bast als „aufgestülpte Erde“ zu verstehen. Letztere gehen aus dem dauerhaft vitalen Kambium hervor, das sich anders als beim Kraut als Mantel um den Stängel herumlegt. Von dort aus manifestiert sich das rhythmische Dickenwachstum über viele Jahre. Holz und Bast verhärten dabei jeweils schon im Entstehen und Bilden so ein raumergreifendes, zum Mineralischen neigendes Trägergerüst, das die vielen „Jährlinge“ – die Baumkräuter – trägt und zur „Krone“ zusammenfast. «Die Bäume scheinen unter allen Pflanzen die Edelsten, weil ihre unzähligen Individuen so sehr mittelbar nur noch an der Erde hängen und gleichsam schon Pflanzen auf Pflanzen sind.» (Novalis). Mit dieser aufgestülpten, lebendigen Erde (wir können von «Pflanzenmineral» sprechen) verbindet sich die Mistel zeitlebens; nur dank ihr kann sie sich heutig sichtbar manifestieren und ihre Eigenart innerhalb der Baumkrone ausleben.
Die enge Symbiose mit ihrem Wirtsbaum ermöglicht der Mistel ein verhältnismäßig vom Jahreslauf unabhängiges Dasein zu haben. Sonst wäre Blühen und Fruchten während der Winterzeit organisch nicht möglich. Von australischen Misteln ist bekannt, dass sie die von ihrem Wirtsbaum entnommenen Bildekräfte für die eigene Gestalt benützen; sie sind – wenn sie nicht blühen – optisch kaum von ihm zu unterscheiden. Unsere weißbeerige Mistel hält die Bildekräfte ihres Wirtsbaumes dagegen in Fluss und verzichtet auf eine eigene Gestalt, wie wir gesehen haben. Gerade das macht sie als Krebstherapeutikum geeignet!
Rudolf Steiner weist daraufhin (GA 319¹), dass die Mistel die Bildekräfte des Baumes dem krebskranken Menschen zur Verfügung stellen kann, wenn sie richtig zum Medikament verarbeitet und dem Patienten eingespritzt wird. Das Heilende geht vom Baum aus, aber ohne die Mistel würde das nicht gehen! Dabei wird deutlich, welche zentrale Stelle die «Wirtsbaumfrage» in der Misteltherapie einnimmt.
Die therapeutische Frage: „Wie finde ich den richtigen Wirtsbaum für meinen Krebspatienten?“, weist dabei in zwei Richtungen. Was braucht der individuelle krebskranke Mensch, und wo finde ich die entsprechenden Kräfte in der Natur? Eine Arbeitsgruppe aus praktizierenden anthroposophischen Ärzten und goetheanistisch arbeitenden Biologen hat sich diesen Fragen 25 Jahre lang gewidmet und eine Ratio ausgearbeitet, die im Herbst 2022 in Buchform veröffentlicht wird (Dr. med. Elisabeth Krauß; Jan Albert Rispens „Mensch, Mistel und Wirtsbaum“ / SchneiderEditionen).
Die Grundgedanken sind dabei einfache: Die Krebskrankheit entsteht aus einer chronischen Erschöpfung, deren Ursache oft im sozial-biographischen Umfeld (Arbeitssituation, familiäre Umstände, …) des Erkrankten zu suchen ist. Der in seiner individuellen Lebensorganisation bis zur Erschöpfung geschwächte Mensch braucht gezielte vitale Unterstützung aus der Baumwelt. Finde ich die Grundseelenstimmung (GA 151²) des an Krebs erkrankten Menschen, dann kenne ich die Farbe seiner Lebensorganisation. Ich muss innerhalb der Baumwelt die gleichgearteten Bildekräfte suchen und ihm diese unterstützend mit Misteltherapie zur Verfügung stellen. In beiden Fällen handelt es sich um eine Differenzierung in sieben („planetarischen“) Grundqualitäten, mit ihren zahllosen Zwischenschattierungen. Damit wird klar, dass eine erfolgreiche Therapie neue Fähigkeiten vom Arzt verlangt, die durch Übung erlangt werden können.
Um aus der Natursubstanz Mistel ein Krebstherapeutikum herzustellen, gab Rudolf Steiner einen bestimmten pharmazeutischen Weg an. Dabei muss der «Wintersaft» in eine horizontale Ausbreitung gebracht werden, die von dem im freien Fall befindenden «Sommersaft» durchkreuz wird. So wird ein «neuer Aggregatzustand» erreicht, der erst das eigentliche Heilmittel darstellt.
Die «Johannimistel» trägt schon die vollständig ausgewachsenen neuen Jahressprossen, aber mit noch unentwickelten Blütenknospen und Fruchtansätzen und kann daher als „vegetativ“ charakterisiert werden. An der fruktifizierenden «Weihnachtsmistel» findet man reife Beeren und fertige Blüten. Die „männlichen“ Büsche tragen große Pollen-Blüten und haben äußerlich eine ins Auge springende gelbe Farbe angenommen. Die „weiblichen“ Büsche, mit winzig kleinen Blüten aber voller großer reifer Beeren, sind dagegen dunkelgrün. Jeder Mistelhersteller berücksichtigt diese winterliche Polarisierung in seiner individuellen Ernterezeptur. Erst die spezielle maschinelle Durchdringung beider «Ursäfte» führt zum fertigen Mistelpräparat. Im Sommer öffnet sich die Mistel für die Welt und sprießt im Gleichklang mit dem Trägerbaum und der umgebenden Vegetation. Im Winter lässt sich die blühende und fruchtende Mistel – dank ihres Wirtsbaumes – von der Natur eine „Extrawurst“ braten.
Die zwei polaren Säfte – der Sommersaft und der Wintersaft – werden durch die maschinelle Verarbeitung zunächst in ihrer Eigenart verstärkt. Der Sommersaft wird der mittelpunktzentrierten Erdenschwere übergeben. Der sich senkrecht darauf bewegende, radial beschleunigte Wintersaft wird der Erdenschwere dagegen entzogen, in die Leichte gebracht und für das Kosmische geöffnet. Die polaren Bewegungen werden aber nicht zu Ende fortgeführt, sondern vorzeitig miteinander verbunden, wobei sie sich vollständig durchdringen, «so dass bis in die kleinsten Kreise hinein eine besondere Struktur hervorgerufen wird» (GA 314³).
Hierin liegt das eigentliche «offenbare Geheimnis» der Präparation. Wir haben die Mistel als „vor-natürliche“ Substanz kennengelernt, die nur dank ihres Wirtsbaumes Natursubstanz werden kann. Durch den Herstellungsvorgang ist sie gewissermaßen um eine weitere Stufe gehoben und kann Menschensubstanz werden, indem sie vom Krebskranken aufgenommen wird und ihm die spezifische Lebenskraft wiederzukommen lässt, welche ihm im Laufe seiner Biographie abhandengekommen ist. So kann durch veredelnde menschliche Kulturtätigkeit aus einem „Nachzügler“ ein „Vorreiter“ werden!
¹ Anthroposophische Menschenerkenntnis und Medizin, Rudolf Steiner, GA 319
² Der menschliche und der kosmische Gedanke, GA 151
³ Physiologisch- Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft, GA 314