Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft

Text: Wolfgang Schaffer.

Keine wichtige zivilisatorische Weichenstellung wird heutzutage außerhalb des Geltungsbereiches von Wissenschaft und Forschung getroffen. Wodurch ist diese Führungsmacht bedingt und wo liegen ihre Grenzen? Es gibt Steigerungsstufen des rein materiellen Verständnisses von Wissenschaft, durch welche die zerstörenden Schattenseiten des wissenschaftlichen Fortschrittes wieder in einen menschengemäßen Ausgleich gebracht werden können.

Magische Kraft

Das Wort «Wissenschaft» weist in seiner gewohnten Bedeutung auf die Erforschung von Zusammenhängen hin, die «wirklich so sind», weil es objektive Beweise dafür gibt. Eine besondere Ausprägung des Begriffes «Wissenschaft» allerdings ergibt sich aus der offenbar zeitlosen Gültigkeit wissenschaftlicher Forschungsergebnisse. Es eröffnet sich damit ein Blick in die Zukunft. Auf der Grundlage von objektiv «gesicherten» wissenschaftlichen Erkenntnissen lassen sich Vorhersagen zukünftiger Ereignisse machen, die mit größter Wahrscheinlichkeit dann auch tatsächlich eintreffen. Wissenschaftlich fundierte Arbeit «funktioniert» in höchstem Maße planmäßig. Die Vorhersagbarkeit beschränkt sich jedoch auf Stoffe und Kräfte, die der materiellen Welt angehören oder in dieser ihre Ursachen haben. In älteren Zeiten wurden Menschen, die fähig waren, kommende, zukünftige Ereignisse tatsächlich vorauszusagen, als «Magoi» oder «Magier» bezeichnet. Wissenschaft ist in diesem Sinne die gedankliche Kraft, die den einzelnen Menschen zu Erkenntnissen führt, die es ihm ermöglichen, seinen Willen gezielt in der ihn umgebenden sinnlich wahrnehmbaren Welt in Taten umzusetzen. Es handelt sich dabei um eine wirksame Kraft, wie sie beispielgebend mit den Worten: «Es werde Licht – und es ward Licht!» aus der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments überliefert ist. Durch gezieltes Nachdenken – oder anders ausgedrückt, durch das willentlich gedankliche «Halten» von Wahrnehmungsbildern und deren Umgestaltung in originelle, neue Vorstellungen – lassen sich  konkrete Probleme vorerst rein gedanklich lösen. Die Umsetzung der so gewonnenen Ideen in praktisches Tun zeigt die Tragfähigkeit des bisher nur in Gedankenvorstellungen vollzogenen Geschehens. Wissenschaftlich gesprochen wird eine gefasste Hypothese durch ein Experiment bestätigt oder widerlegt. In den meisten Fällen braucht es eine ganze Reihe von Versuchen unter jeweils geringfügig und vorausbedacht geänderten Bedingungen, um genau das gewünschte Ergebnis – die Lösung des Problems – zu erreichen. Von den ersten Überlegungen zum «Spitzen» eines hölzernen Zweiges im Sinne eines Stockes über die Erfindung von Zahnstocher, Nadel, Nagel und Zaunpfahl bis hin zur Produktion von «Speeren» in Form von lenkbaren Atomraketen gilt die aufgezeigte Wirksamkeit von Wissenschaft.

Wunder wirken durch das Denken

Das eigentliche Geheimnis dieser Sicht von «Naturwissenschaft» liegt in der unscheinbaren Frage: Warum stimmen die «richtigen» menschlichen Gedanken mit den tatsächlich vorhandenen Weltverhältnissen so rückstandslos überein? Dass es sich bei der praktischen Anwendung von wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnissen um eine spezielle Form von Magie handeln könnte, bestätigt sich bezeichnenderweise oft bei der Begutachtung von modernen technischen Errungenschaften durch zivilisatorisch unbelastete Naturvölker. Zweifellos sprechen diese Menschen den Erzeugern und «Beherrschern» von Autos, Flugzeugen, Computern und Weltraumraketen magische Kraft und übernatürliche Fähigkeiten zu! Dabei liegt die grandiose «Wunderwirkung» der ausgereiften Früchte wissenschaftlicher Forschung vor allem darin begründet, dass die gegenseitigen Entsprechungen von wahrnehmbarer irdischer Materie einerseits und Gedanken und Ideen andererseits soweit intensiviert wurden, dass sich daraus zeitlos gültige Beziehungsfolgen in Form von Ursache und Wirkung erkennen lassen. Wissenschaft klärt und beschreibt die darin enthaltenen Naturgesetze. Diese Erkenntnisleistung vollzieht sich menschheitlich bereits über einen Zeitraum von Jahrtausenden und gelingt nur unter Mitwirkung einer großen Forschergemeinschaft. Durch entsprechende Experimente und Versuche werden Bedingungen geschaffen, um die bisher verborgenen Eigenschaften und Verhaltensweisen von Stoffen und Kräften kontrolliert zu beobachten. Wo die Gültigkeit der durch das gezielte Nachdenken über die experimentell hervorgerufenen Wahrnehmungen gewonnenen Einsichten als «absolut» bestätigt werden kann, ergibt sich daraus die Möglichkeit, auch zukünftiges Geschehen in Bezug auf die betreffenden Kräfte und Stoffe mit einer gewissen Sicherheit vorauszusagen. Dieses vorhersagbare Gestalten zukünftiger Ereignisse hat die vergleichbare Wirkung magischer Praxis. So wie ein «Zauberer» durch die Anwendung spezieller magischer Formeln den Lauf der Dinge seinem Willen entsprechend formen kann ohne direkt beobachtbar in die Folgenkette von Ursache und Wirkung einzugreifen, ist es den Experten der Wissenschaft möglich, zum Beispiel die Entstehung von Wärme im Verlauf der Kernspaltung auf Grundlage des bisher durchschauten Geschehens in einem Atomreaktor exakt vorauszuberechnen. Diese Berechnungen stimmen dann weitgehend mit der sich zeigenden, messbaren Wirklichkeit überein!

Bei der Anwendung von Ergebnissen wissenschaftlicher Grundlagenforschung kommen sowohl lebensfreundliche als auch zerstörerisch wirkende Varianten zur Umsetzung in Betracht, wie sich schon an den Ausgestaltungen des beschriebenen Prinzips der Bildung einer «Spitze» sehen lässt. An dieser Stelle beginnt das eigentliche Abenteuer der Freiheit des Menschen. Wer trägt die Verantwortung für die Folgen wissenschaftlicher Forschung? Wer zieht die Grenzen einer moralischen Welt bei der tatsächlichen Verwirklichung des technisch und somit faktisch Möglichen? Die aktuelle Weltsituation zeigt mit erschreckender Brisanz ein erstes, allmähliches Gewahrwerden der Folgen unseres bisherigen, im Bann der Wissenschaft vollbrachten Tuns im Weltzusammenhang. Kriege, durch menschliches Verhalten bedingte Umweltkatastrophen und soziale Notstände sprechen eine deutliche Sprache und machen klar, dass die derzeit herrschende Form von Wissenschaft nicht ausreicht, um die Zukunft des Menschen fruchtbar zu gestalten.

Der Weg zur Gewinnung von objektiven naturwissenschaftlichen Erkenntnissen im Bereich der materiellen Welt führt über die Entwicklung einer Urteilsfähigkeit, die möglichst unabhängig von der persönlich gefühlten Sympathie oder Antipathie einzig auf der exakten Wahrnehmung von Messdaten und deren logische Einordnung in bereits gedanklich fixierte Hypothesen beruht. Es kommt dabei nicht primär auf die Inhalte dieser Wahrnehmungen – die ablesbaren Messgrößen – an, sondern auf das entsprechende Einordnen der Erfahrungswerte in den Gesamtzusammenhang der Hypothese. Ein anschauliches Beispiel lässt sich aus dem Bau eines Hauses durch geschulte Handwerker entwickeln. Nicht die Analyse der materiellen Beschaffenheit der verwendeten Ziegelsteine stellt das wesentliche Kriterium zum Gelingen des Bauwerkes dar, sondern das Bewusstsein der Handwerker, an welcher Stelle des Baues welcher Stein eingefügt werden muss.

Ein weiteres einfaches Beispiel kann den Zusammenhang und Übergang von Natur- zur Geisteswissenschaft möglicherweise verdeutlichen. Wenn ein Mensch die Kulturtechnik des Schreibens erlernt, muss er sich dabei an bestimmte Gesetzmäßigkeiten halten. Eine erste Voraussetzung ist die Verwendung eines sinnlich wahrnehmbaren Mediums oder Materials. In der Schule wird zumeist ein Bleistift und ein Blatt weißes Papier zur Verfügung gestellt. Ganz unabhängig davon, welche Schriftart oder Schreibrichtung zur Anwendung gelangt, muss die Verbindung von Sprachlaut und Schriftzeichen eindeutig festgelegt werden. Wo diese Verankerung fehlt, entstehen Phantasiesprachen oder Schriften, die nicht allgemein verständlich sein können. Rein methodisch wird die Fähigkeit des Schreibens durch wiederholtes Nachahmen von vorgegeben Schriftzeichen vermittelt. Die Übereinstimmung von Laut und Zeichen kann von jedem Schreibkundigen überprüft werden. Wenn nun ein Mensch richtig Schreiben gelernt hat, ist er beim Gebrauch der Schrift nicht mehr an die zum Erlernen notwendigen Vorbilder gebunden. Er kann sich dieser Zeichen auch bedienen, um Erlebnisse und Zusammenhänge zu beschreiben, die nicht in sinnlich wahrnehmbarer Weise von anderen Menschen nachgeprüft werden können.

Geisteswissenschaft

Die von Rudolf Steiner begründete Geisteswissenschaft will über Nichtsinnliches in derselben Art sprechen, wie die Naturwissenschaft über Sinnliches spricht. Sie unterscheidet sich grundsätzlich von vergleichbaren wissenschaftlichen Ansätzen, da sie den forschenden Menschen selbst in den Zusammenhang des objektiv Erkennbaren miteinbezieht. Es wird ihm die Fähigkeit zugesprochen, sein Erkenntnisvermögen in Bereiche zu erweitern, die physisch sinnlich nicht wahrgenommen werden können. Die so gewonnene Geisteswissenschaft überwindet den der Naturwissenschaft zugrunde liegenden Glauben an die ausschließliche Existenz von Materie nicht durch prinzipielle Verneinung dieser Hypothese, sondern durch bejahende Vertiefung der diesen Glauben tragenden Denktätigkeit.  Dadurch macht sie wieder sichtbar, was die Naturwissenschaft mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln aus dem Kreis ihrer Wirksamkeit zu verbannen sucht: Das ganz menschlich-subjektive «Ich»! Die Instanz, von der man sich infolge ihrer offensichtlichen Anfälligkeit für Irrtum, Trägheit und Täuschung in der wissenschaftlichen Forschung möglichst fernzuhalten suchte, steht so ganz unerwartet wieder im Mittelpunkt der Geisteswissenschaft. Aber es ist eben nicht das ursprünglich naive, wissenschaftlich ungeschulte Bewusstsein, das sich wieder ernst zu nehmen beginnt im Verlauf einer wissenschaftlichen Betätigung. Es ist ein durch den Totpunkt des abstrakten Denkens durchgegangenes «geläutertes» Selbsbewusstsein, das jetzt als Ausgangspunkt der anthroposophischen Geisteswissenschaft zur Geltung kommt. Die zur Beschreibung derselben dienenden Worte sind noch nicht die ganze Sache selbst. Wo im herkömmlichen Wissenschaftsverständnis Definitionen genügen, um Geltungsbereiche abzugrenzen, wird in der Anthroposophie durch die Wortwahl nur auf eine spezielle seelische Tätigkeit in gedanklicher Art hingewiesen. Anthroposophische Geisteswissenschaft versteht sich nicht als Gegensatz zu der Naturwissenschaft, sondern als deren Weiterführung durch Vertiefung und Verstärkung der dem Denken innewohnenden seelischen Kraft.

 Erkenntnisstufen

Um den Übergang von Naturwissenschaft zur Geisteswissenschaft zu verdeutlichen beschreibt Rudolf Steiner die Existenz verschiedener Erkenntnisstufen. Alle «normalen» Erkenntnisprozesse verlaufen seiner Darstellung gemäß auf einer ersten, sogenannten «materiellen» Erkenntnisstufe. Ganz unabhängig davon, ob es sich um alltägliche Ereignisse oder Beobachtungen im Zusammenhang mit komplexen wissenschaftlichen Versuchsanordnungen handelt, umfassen Erkenntnisvorgänge auf der materiellen Ebene vier Bereiche. Es gibt erstens eine wahrnehmbare «Sensation», sprich, einen Sinneseindruck. Diese Sensation wird zweitens in ein erinnerbares Gedankenbild verwandelt. Das so gewonnene Bild der Wahrnehmung wird drittens um den ihm entsprechenden Begriff gedanklich ergänzt. Dieser Vorgang stellt die eigentliche Erkenntnis dar. Die somit vollzogene neue Erkenntnis wird viertens in die alle persönlichen Erkenntnisse umfassende Einheit des Ich aufgenommen. Darüber hinaus gibt es den Darstellungen Steiners entsprechend drei weitere, höhere Erkenntnisstufen, denen im Gegensatz zur ersten materiellen Erkenntnisstufe gemeinschaftlich ein Element fehlt: Sie kommen sämtlich ohne Sensationen – sprich Sinneswahrnehmungen – aus!

Wer daran zweifelt, dass es Gedankenbilder geben kann, die keinen direkten, ursächlichen Bezug zu Sinneswahrnehmungen haben, braucht sich nur die Herkunft von Traumbildern oder umfassenderen geometrischen Vorstellungen vergegenwärtigen. Rein seelisch erzeugte Gedankenbilder werden von Rudolf Steiner als «Imaginationen» bezeichnet. Sie sind die Grundlage der sogenannten «imaginativen Erkenntnisstufe», auf der sie im weiteren Verlauf wie auch die gewöhnlichen Sinneseindrücke um den ihnen entsprechenden Begriff zu einer Erkenntnis ergänzt und in die Einheit des Ich aufgenommen werden. Um jedoch «echte» Imaginationen von Illusionen, Halluzinationen, Traumbildern und anderen Arten von Einbildungen zu unterscheiden, braucht es eine dazu fähige geistige Instanz. Das ist eben ein durch wissenschaftliche Betätigungsart «objektiv» gewordenes Selbstgefühl, dem die subjektiv erlebte Sympathie oder Antipathie nicht die Offenheit für den der Imagination entsprechenden Begriff trüben können. Das größte «Wagnis» aber bleibt der Mensch dabei, wie auch auf allen noch höheren Erkenntnisstufen, doch sich selbst. Die Möglichkeiten, einer Täuschung oder einem Irrtum zu verfallen sind hier ganz offensichtlich stark vermehrt. Die Existenz einer solchen imaginativen Erkenntnisebene prinzipiell auszuschließen steht der gängigen Naturwissenschaft allerdings nicht zu – Worauf sollte sich ihr Urteil diesbezüglich stützen?

Ganz bildlos werden die Erkenntnisse auf der Stufe der Inspiration beschrieben. Ihr fehlt nun neben der Sinneswahrnehmung auch noch jedes gedanklich-bildhafte Element. Sie stützt sich einzig auf ideelle und begriffliche Qualitäten, die dem Ich direkt einverleibt werden. Rein intuitiv zu erkennen heißt schließlich auf der höchsten Stufe, mit dem zu erkennenden Objekt völlig zu verschmelzen und so in der Erkenntnis ohne jede dazwischenliegende vermittelnde Instanz eine direkte Wesensbegegnung zu erleben. Es gibt einen einzigen Bewusstseinsinhalt, den jeder Mensch naturgegeben in Form einer intuitiven Erkenntnis erlebt – das ist sein eigenes «Ich». Wenn wir auf dieser Erkenntnisstufe leben, wird das Wesen der Welt so wahrgenommen, wie wir heute unser «Ich» erkennen.

Wer wollte da noch Taten setzen, die sich als rücksichtslos, gefährlich oder gar schädlich für den Umkreis des eigenen Daseins erweisen?

Das tiefgründige Zusammenspiel von Naturdasein und Ganzheit des menschlichen Ich wird in den im «Anthroposophischen Seelenkalender» enthaltenen Wochensprüchen Rudolf Steiners ausgedrückt. Die Seele des Menschen hat sich zwar durch ihre Individualität von der Natur losgelöst,  behält jedoch in ihrem Willensvermögen fortwährend Anteil an dem natürlich gegebenen «mütterlichen Sein». Wenn im Herbst rein äußerlich die Pflanzenwelt erstirbt, wird der Mensch in seinem «Ich» daran erst richtig wach!  Der verborgene Übergang von Naturwissenschaft zur  Geisteswissenschaft ist in einen besonderen Wochenspruch zur Weihnachtszeit verdichtet. Es ist darin von einer «Weltenwinternacht» die Rede, die es gilt, mit «Geisteslicht» zu durchdringen. Das kann ein sprechendes Bild für die gegenwärtige wissenschaftliche Erforschung aller äußerlich gegebenen Naturzusammenhänge sein. Danach sehnen wir uns einem inneren Herzenstrieb entsprechend sogar regelrecht. Durch die Verwirklichung der beschriebenen Erkenntnisstufen beginnen schließlich «Seelenkeime in Weltengründen» zu wurzeln. In der weiteren «weihnachtlichen» Folge des Geschehens wird daraus dann alles nüchtern geistlos wahrnehmbare Dasein als «Gotteswort im Sinnesdunkel» ganz in Verklärung tönend neu geboren.

«Zu tragen Geisteslicht in Weltenwinternacht erstrebet selig meines Herzens Trieb, dass leuchtend Seelenkeime in Weltengründen wurzeln und Gotteswort im Sinnesdunkel verklärend alles Sein durchtönt.»

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