Reinhard Apel im Gespräch mit Markus Osterieder anlässlich der Ost-West-Tagung in Wien
Wegweiser: Wir bitten um Ihre Gedanken zur Hagia Sophia, die heilige Sophia, die Sophienverehrung und wie dieser Impuls zu den Slawen kommt – vielleicht als einigenden Gedanken für den ostslawischen Raum. Die Weisheit haben Sie auch verbunden in ihrer christlichen Form mit einer der Gaben des Heiligen Geistes, der ja als Pfingstflamme am Haupt der Jünger dargestellt wird.
Das ist dann die Verehrung der göttlichen Weisheit! Diese Frage war ja verknüpft mit dem salomonischen Königtum und damit, wie da ein Tempel als Wohnstätte der Gottheit gebaut wurde. Und zwar in dem Sinne, dass die Gottheit dem Tempel auch einwohnt in Gestalt der Weisheit Gottes, die in den Tempel einzieht (Weisheit Salomos 7:25–27; 8:2). Das Wort dafür im Hebräischen ist bereits ein weibliches Substantiv: „Hokmah“. Auch im Deutschen – die Weisheit, ein Femininum.
Während der Festigung des oströmischen Machtbereichs (später Byzanz genannt) mit dem Zentrum Konstantinopel unter Kaiser Justinian interpretierten die griechischen Theologen der Ostkirche die göttliche Weisheit als eine der sieben Gaben des Hl. Geistes, wenn sie nicht zur Gänze den Typos für Christus, den fleischgewordenen Logos repräsentierte. In diesem Sinn wurde die Kathedrale der Hagia Sophia in Konstantinopel 537 auf den »eingeborenen Sohn und das Wort Gottes« geweiht. Die Weisheit war Wesensbestandteil des Gottessohnes als der zweiten Person der Dreifaltigkeit. Tatsächlich gab es in der Hagia Sophia, die Heilige Sophien-Kathedrale, ursprünglich keine einzige Bilddarstellung der göttlichen Weisheit. Die Hagia Sophia war von Justinian sehr wohl als Templum novum Salomonis konzipiert, als Erneuerung des salomonischen Tempelbaus zu Jerusalem, mit gleichen Maßverhältnissen wie der Tempel (3:1:1,5). So wurde sie auch zum Aufbewahrungsort der von Jerusalem übertragenen Tempelgeräte des Alten Bundes, die als Reliquien angesehen wurden.
Im 9. Jahrhundert geschieht unter Photios (1), der armenische Wurzeln hat, folgendes. Als Patriarch des orthodox-griechischen Kirchenbereichs ordnet er die Gestaltung eines riesigen Mosaiks in der Hagia Sophia an. 867 enthüllte er in der Kathedrale im Beisein des Kaisers die neu entworfenen Mosaike. Alle Augen richteten sich auf die Gottesgebärerin (theotokos) in der Nische der Apsis, die in einer Größe von fast fünf Metern in betonter Mutterschaft mit dem goldgewandeten göttlichen Sohn auf ihrem Schoß auf die Anwesenden herabblickte.
In der Frömmigkeit wuchs das immer stärker zusammen, die Mutter Gottes als Ausdruck dieser Weisheit, sodass dann im Frühmittelalter auch bei uns im Westen die künstlerische Darstellung unter dem Namen „Sitz der Weisheit“ – Sedes Sapientiae – aufkam. Die thronende, Isis-verwandte Gottesmutter mit angewinkelten Beinen und auf ihrem Schoß sitzend das Logos-Kind meistens dann von der Mutter wegblickend in den Raum hinein, wobei es segnend seine Hand ausstreckt. Da ist das Kind wach und verständig und liegt nicht als Kindlein im Stroh mit der knienden Maria davor. Man könnte sagen: Auf dem Schoß der Weisheit sitzt sozusagen der Logos. Das Weltenwort, in Gestalt dieses Kindes, auf dem Schoß dieser göttlichen Weisheit wirkt in den Raum hinaus. Aber in eben jenem 9. Jahrhundert, der Zeit dieses berühmten Mosaiks in der Hagia Sophia, hat jener Photios als Kirchenlehrer in seiner theologischen Anschauung diese Ausgestaltung des sophianischen Gedanken sehr lebendig gemacht. Er hat damit zwei seiner Schüler stark geprägt, den Griechen Konstantin, der später den Mönchsnamen Kyrill angenommen hat, und dessen Bruder Method. Kyrill selbst hat sehr, sehr viel von diesem sophianischen Gedanken aufgenommen. Er erhielt den Ehrentitel Philosophos, ›Weisheitsliebender‹; mit diesem Attribut wird er in allen kirchenslawischen griechischen und lateinischen Quellen respektvoll benannt. Die Stilisierung Konstantin-Kyrills zum Nachfolger Salomons, der sich mit der göttlichen Weisheit verbindet, beginnt schon in der Erzählung seiner Kindheit. Im symbolischen Alter von sieben Jahren träumte der Knabe, dass man ihn vor die versammelten Jungfrauen der Stadt Konstantinopel führte und ihn aufforderte: »Wähle eine von ihnen, die du als Gemahlin und Helferin willst und die gleichartig dir vollendet ist.« Da erwählte Konstantin die Schönste von allen: »Ihr Antlitz strahlte, und sie war auf das herrlichste geschmückt mit goldenen Halsbändern und Perlen und mit jeglicher Schönheit. Ihr Name war Sophia, das ist Weisheit; diese erwählte ich.«
Und als Konstantinopel 860 den Überfall der sogenannten „Rus“(2) erlebte, der Nordmänner von jenseits des Schwarzen Meeres, da berichtet Photios, dass Konstantinopel gerettet wurde durch die Prozession des Schutzmantels der Gottesmutter.
Wegweiser: Die Rus war ganz anfänglich noch eine Gefahr für Konstantinopel?
Das war so, weil die Chroniken berichten, dass die sogenannten Waräger, so hießen die skandinavischen Nordmänner im Osten, eine Art Händler-Krieger, die Gründer und frühen Herrscher der Rus2 waren. Zwar haben sie sich etwas zivilisierter verhalten als ihre Kollegen im Frankenreich, die Wikinger, aber sie waren damals doch auch auf die Reichtümer Konstantinopels aus. Den Berichten nach trat aber das Wunder ein, dass die Ikone mit der Jungfrau letztendlich ihren Schutzmantel über Konstantinopel ausbreitete. Das war ein prägendes Ereignis. Das sogenannte ›Schutzmantelfest‹ (Pokrov) gelangte von Byzanz in das Reich der Rus’ und wurde ab dem 11. Jh. zu einer der bedeutendsten Sakralfeiern der ostslawischen Christenheit.
Jedenfalls verbanden sich diese beiden Brüder Kyrill und Method, während sie ab 863 an der Ausarbeitung des slawischen Alphabets, der Glagoliza, der ersten slawischen Schrift, arbeiteten, inniglich mit diesem Sophia-Motiv. Diese beiden haben schließlich die christlich liturgischen Texte ins Slawische übersetzt. Man nennt sie deswegen auch die Slawenlehrer.
Die Verbreitung des göttlichen Wortes in einer Mundart, die den slawischen Ohren zugänglich war, bewirkte natürlich, dass die Verbindung mit dem Glauben eine Intimere wurde, da man alles über das eigene Sprachelement aufnehmen kann. Kyrill verteidigte auch seine eigene Arbeit gegenüber den lateinischen Priestern, die Latein als liturgische Sprache bevorzugten, indem er darauf verwies, dass es doch nichts Schlechtes sei, das göttliche Wort im vertrauten Sprachkleid zu hören.
Bastin (Mitarbeiterbriefe): Das ist ja bei Wulfila auch schon so gewesen.
Generell ist der Schwarzmeerraum so geheimnisvoll, weil aus diesem Raum während der Christianisierung ständig neue Alphabete hervorgegangen sind. Bis in den Kaukasus hinein … diese Sprachenvielfalt, die man mit dem Pfingstwunder verglich! Man muss hinzufügen, dass Kyrill und Method eigentlich ein Zusammenkommen von westlichen und östlichen Formen des Christentums anstrebten. Kirchen- und machtpolitisch jedoch entzweiten sich die Kirchen seit dieser Zeit immer mehr. Letztendlich führte das zur großen Kirchenspaltung und dazu, dass die geographischen Räume dann getrennte Wege gingen – ein früher West-Ost-Konflikt. Es war da die Frage: Welcher Herrschaft würden die slawischen Gebiete zufallen – Rom oder Byzanz (Ostrom)? Schließlich wird dann die ostslawische Rus nach 988 über einen ihrer Herrscher und dessen Taufe nach griechischem Vorbild christlich, also sie wird orthodox. Nicht zuletzt war es die Zuwendung zu den Ikonen und dem bildhaften Element, weswegen die die orthodox – griechische Haltung mehr Anklang fand. Nicht zuletzt die Verehrung der Bilder, und da wieder auch die Verehrung der Weisheit Gottes, war für die Seelen dort von Bedeutung.
Bei den Ostslawen (3) entstehen dann zu Beginn des 11. Jahrhunderts drei bedeutende Kathedralbauten, um 1040 herum und wirklich fast parallel zueinander.
WW: Noch vor den Mongolen, also noch zur Zeit der Rus?
Ja, lange vorher. Daher ist die Rus der gemeinsame Urbezug aller Ostslawen, und das Christentum war ja schon wesentlich früher angenommen worden. Die Mongolen kamen erst im 13. Jahrhundert und zerstörten letztendlich die alte Rus.
Diese drei Kathedralen, Hauptbauten, waren alle ausdrücklich der göttlichen Weisheit geweiht. Da haben wir eben jene Sophienverehrung. Die erste Kirche entstand in Kiew (1037-46), eine zweite um 989 und 1045-50 in Nowgorod (in den nördlicheren Gebieten der Rus) und eine im Nordwesten in Polotsk (vor 1060), im heutigen Weißrussland. Wir haben also eine bedeutende Sophienkathedrale auf heutigem ukrainischem Staatsgebiet, in Kiew, dann Nowgorod, heute russisches Staatsgebiet, und die dritte ist auf dem Boden erbaut, welches später zum Staatsgebiet von Belarus oder Weißrussland werden sollte (4).
In den Bildformen tritt erst im 14. Jahrhundert die Weisheit wieder etwas verändert auf, nämlich als ein göttlicher »Engel des Herrn« mit weiblichen Zügen. Eine Vorlage findet man in dem auf das 10./11. Jahrhundert zurückreichenden Kiever Litsevaja Psalter, wo in einer dreikuppeligen Kirche ein geflügelter Engel stehend abgebildet ist, darüber die Aufschrift: Svjataja Sofija (Heilige Weisheit).
Man erkennt, dass da ein so zu sagen sophianisches Element ist, welches allen ostslawischen Stämmen gemeinsam übergeben wird. In der Weiterentwicklung dieses Motivs kommt es zu einer eigenen Ikonentradition – vor allem in den nordöstlichen Gebieten der Rus –, wo dann dieser rote Engel in Gestalt der Weisheit Gottes dargestellt wird, der von zwei anderen Wesen flankiert wird: der Gestalt der Mutter und andererseits des Johannes des Täufers. Dieser Engel, so wie er verehrt wird, und an den die Gebete gerichtet werden, das ist die Weisheit Gottes. Solche Ikonen dienen der Anflehung der göttlichen Weisheit, die das Herz erwärmt und auch erleuchtet. Kyrill und Method haben bereits Wert daraufgelegt, dass der Glaube nicht allein in den Glaubenskräften an sich ein Fundament hat, sondern auch durch die Verbreitung in verständlicher Sprache und Schrift geht damit einher die Fähigkeit, dass die Menschen auch die Weisheit Gottes verstehen lernen. Das gilt im paulinischen Sinn so: Für den seelischen Menschen ist die Weisheit Gottes oft Narretei. Aber der geistige Mensch, der kann alles verstehen (I Kor. 2:14-15.). Die Trichotomie des Paulus: Paulus differenzierte zwischen dem Geist-Menschen (pneumatikos anthrôpos), dem Seelen-Menschen (psychikos anthrôpos) und dem Leib-Menschen (sômatikos anthrôpos). Für den Geist-Menschen ist nichts verschlossen, was von der Weisheit Gottes ausfließt: »…uns aber hat es Gott geoffenbart durch den Geist. Denn der Geist durchringt erkennend alles, auch die Tiefen der göttlichen Welt.« (I Kor. 2: 6-8.10.)
WW: Diese göttliche Sophia, ist das jetzt der Heilige Geist auch zugleich?
Schwierige Fragen für ein paar knappe Sätze. Das Pfingstfest setzt in der Ostkirche einige andere Akzente als im Westen. Am ersten Pfingsttag (Sonntag) wird der Tag der heiligen Dreifaltigkeit und der Ausgießung des Geistes begangen. Der zweite Tag (Montag) gilt als der Tag des Heiligen Geistes.
Und auf der berühmten Dreifaltigkeits-Ikone von Rubljow erblickt man drei Engel, die im Garten von Abraham sitzen – eine Darstellung von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Bis zum heutigen Tag gibt es zwischen Ost- und Westkirche den berühmten Filioque-Streit. Die Ostkirche würde sagen, der Heilige Geist geht aus vom Vater allein aus, aber durch den Sohn. Die Lateinische Kirche meint, er geht aus vom Vater und vom Sohn zusammen aus (Filioque = »und Sohn«).
1 Photios kommt von griechisch „Phos“ – Licht. Der Genetiv lautet photos = »vom Licht«. Zu unterscheiden von griechisch »Phosphoros = Lucifer = Lichtträger«!
2 Die Rus ist die erste Reichsbildung, die alle Ostslawen als Ursprung ihres Selbstwerdung ansehen.
3 Ostslawen: Russen, Weißrussen, Ukrainer
4 Die ursprüngliche Rus, auch Kiewer Rus genannt, kann keiner der drei heutigen ostslawischen Staaten für sich allein reklamieren, wenngleich es der gegenwärtige Propagandakrieg versucht. Die Benennung Rus umschließt dessen herrschaftliches, religiöses und kulturelles Erbe bei den drei ostslawischen Völkern. Es wäre ja auch widersinnig, sollten sich entweder die Franzosen, die Deutschen oder Italiener zu alleinigen Nachfolgern von Karl dem Großen und seinem Reich erklären.
Literatur:
- Markus Osterrieder: Das Land der Heiligen Sophia. Das Auftauchen des Sophia-Motivs in der Kultur der Ostslawen. In: Wiener Slawistischer Almanach, Jhg. 50 ([München] 2002), S. 5-62. <http://www.celtoslavica.de/slavica/sophia.pdf>
- Markus Osterrieder: Sonnenkreuz und Lebensbaum: Irland, der Schwarzmeer-Raum und die Christianisierung der europäischen Mitte.Stuttgart: Urachhaus 1995.
- Markus Osterrieder: Von der Sakralgemeinschaft zur modernen Nation. Die Entstehung eines Nationalbewusstseins unter Russen, Ukrainern, Weißruthenen im Lichte der Thesen Benedict Andersons. In: Formen des nationalen Bewusstseins im Lichte zeitgenössischer Nationalismustheorien. Hrsg. Eva Schmidt-Hartmann. München: Oldenburg 1994. S. 197-232. <http://www.celtoslavica.de/bibliothek/pdf/Osterrieder_1994_Von%20der%20Sakralgemeinschaft%20zur%20modernen%20Nation.pdf>