Tau und Quelle

Text: Wolfgang Schaffer

Woher kommt das Wasser auf die Erde? Es kommt von oben. Unaufhörlich strömt es aus den Himmeln Tag und Nacht auf das feste Erdreich nieder. In kleinsten Tröpfchen schwebt es durch die Luft als Dunst und Nebel. Sobald es einer Art von Festigkeit in einem Staubkorn, einem Grashalm oder einer Pflanzenblüte begegnet, setzt es sich fest und schwillt zur Tropfgengröße an. Wenn die Schwerkraft überwiegt, rinnt es zu Boden und sickert in die Erde.

Himmel und Erde

Ein ganz besonderer Schwebezustand zwischen dem immer größer Werden und dem Fall nach unten ist die Bildung eines Tautropfens. An ihm zeigt sich wie ein Urbild das Wesen des Wassers in seiner eigensten Form. Alle anderen Arten von Niederschlag können an diesem Beispiel abgeleitet werden. Wo sich ein Tautropfen an der Spitze eines Pflanzenblattes sammelt, hebt er sich gegen die Umgebung kugelrund ab. An dem Berührungspunkt mit dem Blatt schmiegt sich der Tautropfen so lange als möglich an die feste Grundlage an. Trifft nun ein lichter Sonnenstrahl auf die kleine Wasserkugel, dann bricht sich das Licht an der gekrümmten Oberfläche und dringt zum Teil gebrochen in das dichtere Medium des Wassers ein. Ein anderer Teil des Sonnenlichts wird nach außen hin zurückgeworfen und erscheint im Auge des Betrachters als Spiegelbild der gesamten umgebenden Welt. Schaut man genauer in diesen kleinen Weltenspiegel hinein, sieht man sowohl sein eigenes Auge als auch das funkelnde Sonnenlicht in ein einziges Bild zusammengefasst. Es ist der Krümmung des Tautropfens entsprechend in sich gebeugt. Hier begegnen sich Erde, Mensch und Kosmos auf kleinstem Raum in einer durchsichtigen Harmonie. Wer sich in diese Wunderwelt eingehend vertieft, wird mit dem Staunen auch die Ehrfurcht vor dem unscheinbaren Geheimnis eines jeden Tautropfens kennenlernen. Wasser ist das Bindeglied zwischen Himmel und Erde, das die Bildung eines belebten Körpers auf der Erde erst möglich macht. Der menschliche Leib besteht zum größten Teil aus Wasser, in das der jeweiligen Zellfunktion entsprechend mineralische Substanzen eingelagert werden. Darüber hinaus dient das Wasser auch zur Reinigung des Körpers, indem es hilft, verbrauchte oder schädliche Stoffe und Substanzen aus dem Körper auszuscheiden.

Im Verlauf der Schöpfungsgeschichte, die uns in der Heiligen Schrift überliefert wird, kommt das Wasser gleich am Anfang vor. Himmel und Erde werden geschaffen. Alles ist wüst und leer, es gibt einen finsteren Abgrund und der Geist Gottes schwebt über den Wassern. Am zweiten Schöpfungstag wird das Wasser wiederum genannt. Nachdem das Licht und die Finsternis als erster Tag geschaffen sind, wird das Wasser in ein Oben und ein Unten aufgeteilt. Der Himmel wird nun als das Firmament aus Luft zwischen die beiden Wasserreiche eingefügt. Das Wasser unter dem Himmel sammelt sich an einem Ort als Meer und gibt so die feste Erde frei. Alles weitere Leben auf der Erde ist nun in den ewigen Kreislauf des Wassers eingebunden. Es strömt unaufhörlich der Schwerkraft folgend aus den Wolken des Himmels als Tau oder Regen auf die Erde nieder und findet sich schließlich in den großen Weiten der Weltenmeere an den tiefsten Punkten der Erdkruste wieder. Von hier aus wird es an der Oberfläche durch die Kraft der Sonne wieder in Höhe des Himmels hinaufgezogen und verteilt sich in den mannigfaltigen Wolkenbildungen als belebendes Nass über die ganze Erde hinweg.

Kugel und Schale

Solange das Wasser der Schwerkraft auf der Erde unterworfen ist, kann es sich nicht zu seiner idealen Form ausbilden. Die Kraft des inneren Zusammenhaltes würde von sich aus eine völlig ausgewogene Kugelgestalt ergeben. Nur im schwerelosen Zustand sind für das Wasser diese Bedingungen gegeben. Unter irdischen Verhältnissen verlagert sich die ideale Gestalt immer in die Richtung der jeweils herrschenden Schwerkraft. Ab einer gewissen Tropfengröße kann die runde Form nicht mehr gehalten werden. Der Tropfen zerrinnt. Ganz allgemein gesprochen hat Wasser die Eigenschaft, Stoffe mit denen es in Berührung kommt völlig zu umschließen. Sie lösen sich im Wasserinneren auf und bilden dann eine Eigenschaft des an sich farb-, geruch-, und geschmacklosen Wasserelementes. Salz und Zucker seien hier als Beispiele genannt. Bei Hindernissen, die zu groß sind, um sie in sich aufzunehmen, findet ein Umfließen statt. Eine herausragende Eigenschaft des Wassers liegt darin, die Kraft des inneren Zusammenhaltes, die sich in der Formung einer Kugel zeigt, nach außen umzustülpen. Sobald sich eine entsprechende Berührung aus der Umgebung ergibt, haftet es sich dann an diesen Umkreis an. Wasser saugt sich so zum Beispiel im Inneren von dünnen Gefäßen gegen die Schwerkraft empor. Ein trockener Schwamm oder ein Blatt Papier können dadurch ganz ohne weiteres Zutun Wasser in sich aufnehmen. Der Dichter Johann Wolfgang von Goethe sieht die Seele des Menschen in einem Gedicht als ein Gleichnis des Wassers. Nimmt man nun die Entstehung eines Tautropfens als ein Bild für die Verkörperung einer Seele in einen irdischen Körper, so lassen sich daraus weitere Entsprechungen ableiten. Jeder Wassertropfen stammt ursprünglich aus dem Meer. Die Menschenseele kann dementsprechend mit der ursprünglichen Schöpfungskraft im Universum als wesensgleich gesehen werden. Sie stammt aus Gott wie jeder Tropfen Wasser aus dem Meer. Trotzdem ist es natürlich nur ein verschwindend kleiner Teil des Göttlichen, der sich zu einem jeweiligen Schicksalslauf individualisiert. Es spiegelt sich an ihm jedoch im Licht der Sonne die ganze Welt. Dazu gehört letztlich auch das Spiegelbild des Auges des Betrachters, der sich suchend selbst darin erkennt. Der Mysterienspruch «Mensch, erkenne dich selbst!» wird an diesem Gleichnis des Wassertropfens praktisch nachvollziehbar. Ein weiteres Gleichnis der Natur eines Wassertropfens mit der Menschenseele liegt in der beschriebenen Umstülpung von einer Kugelform zur Schalenbildung. So zeigt der Lauf des Schicksals eines Menschen einerseits die Fähigkeit, sich als Ganzheit zu erleben. Wie eine Kugel zieht sie sich dabei immer in sich selbst zurück. Andererseits verbindet sie sich unaufhörlich mit allem, was ihr von außen an Sinneseindrücken mit der Welt entgegenkommt. Die Seele wird dabei zur Schale, in die das Schicksal strömt und die es lebensvoll umschlossen hält.

Wasserprobe

Auf dem Schulungsweg der Anthroposophie gibt es ein Erlebnis, das als «Wasserprobe» beschrieben wird. Es kann sich ereignen, sobald ein Mensch gelernt hat die geheime Schrift zu lesen, die sich aus der Erkenntnis der «wahren» Namen aller Dinge entziffern lässt. Ein Geistesschüler auf dieser Stufe hat bereits die Fähigkeit erlangt, durch den Sinnenschein hindurch zur Erfassung des Wesens aller Dinge vorzudringen. Damit erkennt er als ihren wahren Namen, was ihrem Ursprung die Bedeutung gibt. Diese Entwicklungsstufe wird in dem Schulungsbuch «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» von Rudolf Steiner die bestandene «Feuerprobe» genannt. Aus dem Lesen dieser verborgenen Schrift ergibt sich für ihn nun – dem Buchstabieren eines Wortes oder Satzes in einer vorher fremden Sprache gleich – ein bisher unbekannter Sinn. Da dieser Sinn ganz ohne direkten Bezug zur äußeren Sinneswelt gefunden wird, leitet sich daraus der Ausdruck «Wasserprobe» her. Es gibt für das betreffende Erleben keinen Halt mehr in der äußeren Umgebung. Ein Mensch, der so die Welt des Geistes kennenlernt, kann sich nach keinem von außen an ihn herankommenden Widerstand mehr richten. Wie man sich im tiefen Wasser nur durch die Fähigkeit des Schwimmens an der Oberfläche halten kann, liegt es nun ausschließlich an der inneren Aktivität des Individuums, ob es sich auf dieser Stufe bewusstseinsmäßig «über Wasser» halten kann. Aus dem Verständnis der geheimen Schrift ergibt sich die Einsicht in alles, was des Weiteren durch den Geistesschüler zu geschehen hat. Die Probe ist bestanden, wenn er seiner so gewonnenen Erkenntnis folgend handelt. Tut er es nicht, so fällt er unweigerlich in den Zustand der rein sinnlich motivierten Lebenswelt zurück. Eine letzte Stufe auf dem Schulungsweg besteht darin, letztlich auch ohne jeden Hinweis der «geheimen Schrift» ganz aus sich selbst zu handeln. Der Hauch des Geistes wirkt dann auf die Seele ohne jede Spur von außen. Wer diese «Luftprobe» besteht, handelt von nun an ohne Zögern direkt aus dem Geist.

Quellenwunder

In vielen Märchen kommt es dem Jüngsten zu, sich auf die Suche nach dem Wasser des Lebens zu begeben. Durch dieses ganz besondere Wasser können Krankheit, Alter und Tod eines Menschen überwunden werden. Rudolf Steiner hat in eines seiner Mysteriendramen ein eigenes kleines Märchenbild eingefügt, in dem auch das Wasser besonders wichtig ist. Es spielt an einer Felsenquelle in einer gebirgigen Gegend. In mondhellen Nächten erlebt dort ein Jüngling in wiederholter Art ein geheimnisvolles, wortloses Quellwunder. Er sieht in den vom Rand der Felsenquelle aufsprühenden, unzähligen kleinen Wassertröpfchen die Gestalten von drei Frauen. Die erste dieser Frauen fasst die farbenglitzernden Wassertröpfchen und übergibt sie gesammelt der zweiten Frau. Diese formt daraus ein Kelchgefäß und reicht es an die dritte weiter. Die dritte Frau füllt nun Mondensilberlicht in diesen Kelch und reicht dem Knaben diesen Kelch. In der Nacht, die diesem Wunder folgt, wird dem Knaben das Gefäß im Traum durch einen Drachen entrissen. Das Wunder dieser Felsenquelle wiederholt sich noch dreimal für den Knaben, dann ist es damit vorbei. Nach vielen Jahren erst im vollen Mannesalter zeigen sich die drei Frauen an einem Abend plötzlich wieder vor dem Seelenauge dieses Mannes. Er ist erschöpft von harter Tagesarbeit. Jetzt sprechen sie zu ihm und beschenken ihn mit weiteren Gaben. Die erste gibt ihm einen Wunderbecher. Er ist gefüllt mit einem Lebenshoffnungstrank, der hilft die Einsamkeit im Leben zu ertragen. Die zweite Frau schenkt ihm ihren Wunderhammer, der Lebensglaubensstärke schmieden kann, wenn sich die Seele mutlos fühlen muss. Die dritte Frau entbietet ihm ihren Wunderwebestuhl. Auf ihm werden Lebensliebestrahlen vertrauensvoll verwoben, wenn Lebensrätsel der Seele ungelöst erscheinen. In der Nacht, die diesem Seelenschauen folgt, zeigt sich der wilde Drache wieder. Er muss jetzt aber ohne Beute bleiben, weil die Geschenke der drei Frauen an den Mann ihn nun vollkommen vor dem Drachen schützen.

Dieses Märchen zeigt, wie sich das innere Erleben im Laufe des Erwachsenwerdens eines Menschen zur tieferen Einsicht steigern kann. Was ihm bildhaft aus den Jugendjahren in der Erinnerung erhalten bleibt, erfüllt sich viele Jahre später schicksalshaft mit neuem Leben. Dieses Erleben ist nun nicht mehr stumm, sondern mit Klang und Sinn erfüllt. Darin zeigt sich die Kraft des Wasserelementes auch in seiner geistigen Bedeutung. An vielen Stellen der Heiligen Schrift wird von dieser gewaltigen Kraft gesprochen, indem es wie zum Beispiel in der Apokalypse des Johannes heißt «Ich sah… und ich hörte… wie das Rauschen gewaltiger Wassermassen…» Welche Kraft dem Wasserelement auch physisch innewohnt, zeigt sich bei jeder Überschwemmung, die zu einer Katastrophe führt. Die Zeit im Jahreskreis vom Sommerende bis zur längsten Winternacht gleicht dem Verlust des unbeschwerten Kinderdaseins in der Sommerzeit bis hin zum schweren Ernst des Arbeitslebens als Erwachsener. Wer darin nicht in Einsamkeit versinken und mutlos den Schicksalsrätseln ausgeliefert bleiben will, braucht den Schutz durch eine höhere Wachsamkeit. Das Geschenk des Wunderbechers mit dem Lebenshoffnungstrank ist nicht genug. Der wilde Drache kann uns diesen Trank entreißen. Es braucht dazu auch noch das Werkzeug eines Wunderhammers, um sich den Kelch auch selbst zu schmieden. Aus lebensvollen Glaubenskräften wird er angefertigt. Zuletzt fehlt nur noch Lebensliebeslicht, das strahlend in den Becher sich ergießt. Wer daraus trinkt, wird unantastbar. Der Drache kann der Seele nun nicht weiter schaden. In der Anthroposophie steht dafür gleich am Beginn des Herbstes die Wesenheit des Archai – Zeitgeistes Michael. Wer sich an ihn wendet, zieht seine Jugendkräfte mit neuem Mut an sich heran. Daran gemahnt ein Wahrspruchwort von Rudolf Steiner aus dem Jahr 1923. Es spricht auch vom Gehör der Seele, die ihren Weg im Lauf des Schicksals finden möchte.

«Wir Menschen der Gegenwart

brauchen das rechte Gehör

für des Geistes Morgenruf,

den Morgenruf des Michael.

Geist-Erkenntnis will der Seele

erschließen dies wahre

Morgenruf-Hören.»

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