Text und Bild: Wolfgang Schaffer
Menschen, die mehrere Jahrzehnte lang auf der Erde leben haben sich meistens daran gewöhnt, dass sich alles verändert. Der eigene Körper, die sichersten Ansichten, soziale Gemeinschaften, die biologische und politische Landschaft, das System, selbst das Wetter und das Klima bleiben über längere Zeiten nicht gleich «normal». Was bleibt ist ein gewisser Rhythmus von Kommen und Gehen, der Jahreskreislauf mit grob vorhersehbaren Wiederholungen, Wachen und Schlafen für das individuelle Bewusstsein.
Leben und Tod sind die letzten großen Polaritäten, zwischen denen unsere Existenz verläuft. Wenn man die Frage nach dem «Woher bin ich geboren?» am Anfang des Lebens auf der Erde gleichberechtigt mit der Frage «Wohin werde ich gehen?» nach dem Tod stellt, kann es sogar scheinen, als ob das Leben auf der Erde wie ein Zwischenraum wäre. Wir erleben einen Übergang vom unsichtbaren Daseinszustand vor der Zeugung wieder zurück in das Unsichtbare nach dem Sterben.
In seinem Buch «Theosophie» beschreibt Rudolf Steiner drei Welten, an denen jeder Mensch Anteil hat. Durch seinen physischen Leib lebt er im Stoffwechsel mit der uns umgebenden planetarischen Erde. Dieser Lebensprozess des leiblichen Menschen beginnt mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle im Augenblick der Zeugung und er endet mit dem Zerfall der Zellen des gesamten Organismus ab dem Augenblick des Todes. Durch den physischen Leib nehmen wir die ganze uns umgebende äußere Welt wahr.
Die zweite Welt ist jedem Menschen nur von Innen her erlebbar. Sie umfasst die Regungen der Seele in Form von Gedanken, Gefühlen und Empfindungen. Niemand kann mit den sinnlichen Augen wahrnehmen, was ein anderer Mensch im Inneren der Seele erlebt. Den Anblick einer Blumenwiese teilen sich alle Betrachter, die sie mit offenen, gesunden Augen durchwandern. Das Gefühl der Freude an der Wahrnehmung der farbenreichen Blüten entsteht im Seeleninnern jedes Einzelnen völlig unsichtbar.
Die Welt des Geistes zeigt sich schließlich ganz unabhängig von dem individuellen Fühlen an der Einsicht in die Gesetze, die zum Beispiel dem Wachsen und Vergehen der Pflanzenwelt zu Grunde liegen. Der Geistgehalt der Sinneswelt hat Gültigkeit in einem Bereich, der jenseits liegt von Raum und Zeit. Was sich als Naturgesetz durch denkende Betrachtung des sinnlich Wahrnehmbaren erschließt, erhält seine Bedeutung aus den Dingen und Wesen selbst. Die physische Form des Pflanzenleibes ist der Vergänglichkeit unterworfen, nur im Samenkorn überdauert es wie unsichtbar die Zeit des Winters. Unsere Freude an der blühenden Gestalt der Blume entsteht in jedem Frühling neu. Die Gesetze, die all dem Werden und Vergehen in der Sinneswelt zugrunde liegen, sind unsichtbar und allgemein im Ewigen vorhanden.
So lässt sich schon am Beispiel der Pflanze die Metamorphose ihrer sichtbaren Blattgestalt als Übergang und Zwischenraum des geistig unsichtbar und unvergänglich existierenden Formprinzips verstehen. Mit den Worten «Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis» deutet Johann Wolfgang von Goethe auf eine Welt, die hinter allem sichtbaren Werden und Vergehen auf der Erde zu finden ist.
Mit dem Fest der «Unbesiegten Sonne – sol invictus» wurde den Menschen in vorchristlicher Zeit die Wintersonnenwende ins Bewusstsein gebracht. Der kürzeste Tag im Verlauf eines ganzen Jahres verlief damals wie heute in dem Zustand der größten planetarischen Sonnenferne. Mitten in winterlicher Kälte und Finsternis gedachte man voller Hoffnung des Wiedererscheinens der wärmenden, lebenspendenden Sonnenhelle. Dieses antike Mysterium wurde nach der Zeitenwende in ein christliches Geschehen umgedeutet. Die Folgen dieser erneuerten Sicht sind in ihrer speziellen Perspektive durch die Anthroposophie gewaltiger und weitreichender als je zuvor. Die ganze Erde soll von jetzt an aus dem Zustand der Weisheit, die in sie im Laufe der Vergangenheit gelegt wurde, durch uns Menschen in einen Zustand der Liebe verwandelt werden. Unser irdisches Leben stellt aus dieser Sicht einen Übergang dar, durch den wir uns aus ganz persönlichem, freiem Entschluss in eine höhere Daseinsform verwandeln können. Jede wenn auch noch so kleine Tat aus selbstloser Liebe führt die Erde und mit ihr auch uns aus dem Zustand der existentiellen Notwendigkeit in das Reich der unbedingten Freiheit. Damit ist wohl auch der zukünftige «Himmel auf Erden» bezeichnet. Die «Weihe» der Nacht führt die ihr derzeit gegebene Form des unbewussten Zwischenraumes von Tag zu Tag in die ihr ursprünglich innewohnende Fülle des Anfangs zurück. Denn eher als das Licht des Tages war die Finsternis, in die es im Urbeginne scheinen konnte. Ein Leitmotiv zu der inneren Wandlung, die mit dem Weihnachtsfest und den damit tiefergehend verbundenen Gedanken in die Welt gekommen ist, kann in dem folgenden Wochenspruch aus dem Seelenkalender Rudolf Steiners gefunden werden.«Zu tragen Geisteslicht in Weltenwinternacht erstrebet selig meines Herzens Trieb, dass leuchtend Seelenkeime in Weltengründen wurzeln und Gotteswort im Sinnesdunkel verklärend alles Sein durchtönt.»